Bloch, Ernst. Das Prinzip Hoffnung [ID D19401].
Frohbotschaft des irdisch-himmlischen Gleichgewichts und des unscheinbaren Welttakts (Tao): Konfuzius, Laotse.
Auch der maßvolle Mensch hält sich zurück, drängt sich nicht vor noch auf. Vom holden Bescheiden bis zur Gabe, ausgeglichen im Mittleren zu sein, zieht sich eine verwandte Art. Sie ist bürgerlich in einem älteren Sinn, in einem, der noch keinerlei ungemessenen Profittrieb hat. So wurde auch die mittlere Haltung, die dem Abenteuer fremde, besonders in Völkern ohne kriegerische Oberschicht gepriesen. Ohnehin empfiehlt sich gepredigter Anstand, neben grauenhaften Leibesstrafen und vorbeugender als diese, um die Massen in Ruhe zu halten. Man liebt das Erprobte, das Ausgewogene, das Lot in den Dingen, man ist andächtig zum Maß. Am bewußtesten erschien dergleichen in China, am Ende seiner Feudalzeit versteht sich, um 700 v. Chr., unter anarchischen Wirren, die sich noch bis um 220 v. Chr. hinzogen. Damals wurde China erst zivil, eine neue Herrenschicht entstand, das ist eine neue Form der Grundrente. Die patriarchalisch aufgebaute Familie blieb zwar, doch die adligen Geburtsrechte fielen, außer dem Kaiser gibt es keinen Geburtsadel. Auch der Kaiser und seine Mandarine (ein neuer Bildungsadel) gaben sich nicht mehr als die »Herren« der ritterlich-feudalen Zeit, sondern als die despotischen »Eltern« eines formal befreiten Volks. Aus der Hofhaltung wird Maßhaltung, sozusagen; die Lebensform wird durchgehends patriarchalisch gezähmt. Religiös formuliert wurde diese erstrebte Mitte durch Konfuzius, einen selber zurückhaltenden, nirgends eifernden Mann. Er wirkt als Sittenlehrer unkriegerisch wie keiner: »Besser ein Hund und friedvoll als ein Mensch und im Streit leben.« Das Li (An-standsregel) wird zur Andacht, das Jen (Menschlichkeit) bedeutet hier Brauch oder Überlieferung. Um Wildes oder Dunkles kümmert sich ein Kluger nicht: »Worüber der Meister nicht sprach, waren unnatürliche Erscheinungen, Taten der Gewalt, Unruhen und Geister« (Lun-yü VII, 20). Ebenso: »Den Geistern mit Ehrfurcht begegnen, aber Abstand von ihnen halten, das mag man Weisheit nennen« (Lun-yü VI, 20). Dafür rückt der Kaiser in die fromme Mitte, der Kaiser des nachfeudalen, patriarchalisch-zcntralisierten »Rechtsstaats« und seine Besonnenheit. Sie zu formulieren, mehr noch: zu weihen, dazu griff Konfuzius persönlich auf die Vergangenheit zurück, als wäre die Theologie des neuen, des patriarchalisch-absoluten Staats bloße Reform«. Konfuzius verkleidet das Seine als Kodex des feudalen Gentleman, er hält sich sentimentalisch an den überlieferten Brauch, nichts soll wiederhergestellt werden als der »Weg der alten Könige«, nichts soll regelgebend sein als die alten Urkunden des Schu-king und Schi-king. In Wahrheit aber wurde Konfuzius der Weisheitslehrer der neuen Patrimonial-
Bürokratie; er nimmt ihre nicht mehr geburtsständische, sondern akademische Gliederung voraus, ihren Pazifismus und Rationalismus. Mit der nachfeudalen Gesellschaft erscheint eine nachfeudale Götterwelt, und sie allerdings hat, bei aller gebliebenen Naturreligion, ein so eminent Menschliches in der Mitte wie die Sittlichkeit des Kaisers und seine maßhaltende Besonnenheit Das ist in dieser Form ein Neues, besonders im Gebiet der Naturreligionen, zu denen die chinesische noch zählt; und Konfuzius der Stifter selbst, tritt trotz aller maßvollen Zurückhaltung immerhin laut und deutlich mit seinem Namen auf: als Lehrer des Kaisers und seines Reichs der Mitte. Gewiß, auch andere Naturreligionen machten das Oberhaupt magisch: im alten Irland wurde geglaubt, ein starker König bringe Natursegen; im alten Mexiko mußte der Herrscher bei Thronbesteigung sogar den Schwur leisten, daß er die Sonne scheinen, die Wolken regnen, die Flüsse fließen lassen wolle und die Erde zu großer Fruchtbarkeit bringe. Im alten Indien war dieser Naturrapport sogar mit Moral versehen: »Wo die Könige sündlos handeln«, sagt das Rechtsbuch des Manu, »dort werden die Menschen schmerzlos geboren und leben lange, das Getreide schießt auf, sobald es gesät, Kinder sterben nicht, alle Nachkommen sind gut geraten.« Und in Babylon, in Ägypten hatte zwar kein Stifter, wohl aber der Herrscher als solcher göttliche Würde, durch ihn hindurch segnete Marduk, segneten Horus, Osiris, Re das Land. Aber ob Irland oder Mexiko, ob Altindien oder gar Ägypten-Babylon mit seinen riesig tabuierten Monarchien: das Oberhaupt des Volkes steht unterhalb der jeweiligen Naturgötter, verfügt ihnen gegenüber nur über eine besondere Gebetskraft, oder aber Marduk, Re verkörpern sich selber in der Königswürde, bei sonst fast menschfreiem Astralmythos. Anders eben im Konfuzius-Glauben: der Kaiser steht über den irdischen Naturgöttern, zwischen Erde und Himmel hält nur er das Gleichgewicht. Die Berg- und Fluß-, die Stadt- und Provinzgötter des Reichs gelten als kaiserliche Beamte, sie sind absetzbar wie Mandarine. Der Kaiser des Konfuzius ist dasselbe wie die Mitte des Staats und Mitte des Kosmos: Mißernte, Überschwemmung, Erdrutsch, selbst böse Stern-Konstellationen folgen so genau aus ungeordneter Regierung wie guter Naturgang aus geordneter. Und an diesem Punkt der Lehre wird sichtbar, daß die Benanntheit und Betontheit eines Stifters auch eine Naturreligion entscheidend verändert (über die bloße ideologische Glorifizierung des Herrschertums hinaus). Wonach ein Stifter sogar vor beibehaltenen Gewalten des Astralmythos nicht verschießt, wenn dieser Mythos sich nicht mehr hoch über dem Menschenreich erhebt, sondern dieses nun in die zentrale Mitte von Erde und Himmel einrückt. Die altchinesische Religion hielt sich noch gänzlich naturmythisch, sie war dämonisch-orgiastisch in ihren Fruchtbarkeits- und Acker-Riten (das chinesische Theater bewahrt davon noch Züge), sie war astralisch in ihren Riten und Gesetzen, in ihren Messungen und ihrer Musik (der Urkaiser und Urliturg, der legendäre Huang Ti, ist nichts anderes als der Jahres- und Kalendergott). Aber durch Konfuzius verschwindet das Orgiastische völlig, und das Astralmythische wird uminterpretiert, wird durch den Maßgeber des Einklangs zwischen Kaiser und Natur auf die Macht menschlicher Harmonie projiziert. Daher die Grundlehren: »Der Himmel spricht nicht, er läßt durch einen Menschen seine Gedanken verkünden«, und: »Für das Reich der Mitte gibt es nicht nur auf der Erde, auch im Himmel kein Ausland.« Eine der erstaunlichsten Pazifizierungen fand an den Gegensätzen statt, zwischen denen einst der Kampf der weiblich-chthonischen und der männlich-uranischen Naturdämonen gerast haben mochte. Y-King, das alte »Buch der Wandlungen«, nennt diese Gegensätze Yin und Yang; sie bedeuten Tal und Berg oder auch Flußufer, deren eines im Schatten, deren anderes an der Sonne liegt, in der Zeit der Ming-Dynastie, ja schon in sehr frühen Schamanenschriften, wurden sie auf Weib und Mann bezogen. Aber der Kampf zwischen Yin und Yang, Nacht und Tag, Erde und Himmel findet, völlig urwüchsigdialektisch, die Einheit der Gegensätze überall, wenn auch eine beendete; Yin und Yang werden im Ganzen zu Erd- und Himmelsschalen des großen Gleichgewichts, der ersehnt-universalen Harmonie. Und bei alldem eben ist die Menschenwelt, mit dem Kaiser an ihrer Spitze, nirgend mehr Naturgöttern unterworfen, sondern einzig dem Gedanken des Himmels, - und dieser ist, ein letztes Spezifikum Ostasiens, kein Gott. In allen westlichen lief von den niederen Göttern zum höchsten eine einzige superiore eine gleichsam immer theistischer werdende Linie in China dagegen sind Götter nur in der Natur, und die sie überwölbende, ihr superiore Welt ist nicht-theistisch. Bereits Schu-king, das alte »Buch der Urkunden«, lange vor Konfuzius, nannte die himmlische Ordnung T'ien-tao, das Auf-dem-rechten-Weg-Sein des Himmels; bei Konfuzius wurde daraus die Fürsorge einer ebenso nicht-theistischen, die Welt durchwaltenden Norm. Sie wurde der letzte Halt der Mitte, sie verhindert durch den Kaiser hindurch, daß Reich und Reichs-Natur aus ihren Grenzen schweifen; Anschluß an T'ien-tao ist Vermittlung mit der Ur-Balance aller Dinge, also mit dem Segen. An dieser Stelle tritt allerdings der Stifter doch wieder zurück, obzwar aus ganz anderen Gründen wie beim Astralmythos: Person wäre hier Störung. Die Welt läuft, bei ordentlichem Menschenwandel, wohltätig im Kreis; wie der Familienstaat, wie der Einklang der Natur, so duldet T'ien-tao zwar einen Lehrer, aber es braucht keinen Tribun, und der Mensch selber braucht im T'ien-tao kernen. Das ist eine Beschaffenheit oder eine Grenze, die der Religion Chinas blieb, solange sie überhaupt vorhanden war. Während die vorderasiatische, die iranische, die indische Kultur in der Folge machtvollste Prophetie hervorgebracht hat, weiß China nichts davon, und kein Stifter hob ein Haupt über die heilige Gesundheit des human-kosmomorphen Maßes. Wurde Konfuzius einige Jahrhunderte nach seinem Tod zumGott erklärt, so bedeutet das keine Eindringung in den Himmel, sondern eine bloße Konzession an den polytheistischen Volksglauben; diese Art Gottmensch ist bei der großen und untergeordneten Menge chinesischer Götter wesenlos. T'ien, der Himmel selbst, hat auch hier keinen Raum für einen Gott, T'ien bleibt personlos-geschlossener Inbegriff moralisch-physischen Zusammenhangs. T'ien-tao behält so den ruhigen Atem des statischen Familienstaats, in vollkommener Ideologie und der Vollkommenheit eines religiösen Ideals zugleich: Menschlichkeit ist Innehaltung dieses Himmelswegs. Astralmythos ist nicht verschwunden, aber völlig zu einem Kosmomorphen zurückgegangen, das sowohl das Familien- und Beamten-China reflektiert wie, in einem rationalistischen Maß-Mythos, normiert. Und bezeichnenderweise hat diese religiöse Haltung überall, auch außerhalb Chinas, angezogen, wo heilsame Mitte gesucht worden ist, regelndes Maß einer befriedeten Natur. Bewußt geschah das während des achtzehnten Jahrhunderts, im Kampf des Bürgertums gegen neufeudale Ausschweifung, Mittelosigkeit, »Unnatur«. Damals trat nicht grundlos das China des Konfuzius neben das Griechenland der sieben Weisen, der Aristotelischen, traten der Glaube des Maßes neben Sophrosyne, der Weltgang-Optimismus neben Idylle und Arkadien. Auf Grund eines antifeudalen Bon-sens-Gefühls wurde damals fast Genuines im China des Konfuzius und seiner mittleren Weltkindschaft wiedergefühlt und rezipiert, dauernd bedenkenswert, dauernd ein Stück Korrektiv im überbrausenden Wunschbild des Rechten. Es gibt ein eigentümliches, von allem Juste Milieu abhebbares Nachbild des Konfuzianismus sogar in der Revolution, nicht bloß in der Französischen; so scheint dies Nachbild noch in Brechts Satz: »Der Kommunismus ist nicht radikal, der Kapitalismus ist radikal; der Kommunismus ist das Mittlere.« Bon sens, Maßglaube, Vertrauen auf die Fahrstraße, die genau zwischen Skylla und Charybdis hindurchführt, enthalten immer noch ein Element jener wenig lärmenden Frohbotschaft, die sich von Konfuzius herschreibt. Sie ist dem kritischen Vergleichen nahe verwandt, also kann sie revolutionär sein, sie ist dem Ausgleich nahe verwandt, dem kontinuierlich Geratenden, also kann die Botschaft freilich auch ordnungsfromm sein und konservativ. Von hier auch das Konfuzianische in Goethes Weltmaß-Glauben, im Glauben an ein Naturwesen, das regelnd überall die rechten Gewichte einhängt. Von hier das »Leben nach der Vernunft«, das Hegel an China anzog und das ihn dieses Land so viel genauer behandeln, so viel näher verstehen ließ als das exorbitante Indien der Veden, als das aus jedem Weltmaß entfernte Buddhas. Noch in der Nachreife wirkte hier ersichtlich keine Chinoiserie, sondern eine als ordentlich, fast bereits als wirklich empfundene Frohbotschaft: die Welt, wenn der Mensch sich auf sie versteht, ist wohlbestellt. Ausfiel allerdings die Andacht zum Einklang, als die nicht so übersichtliche, welche den Konfuzianismus zur Religion machte und nicht nur zu einem kosmischen Moralkodex; ausfiel das so feine wie unübersetzbare Mysterium im T'ien-tao. Wird das Leben der Menschen kanonisch, wenn es den Himmelsweg zu seinem Kanon macht dieser Himmelsweg auch bei Konfuzius paradox; schon deshalb weil er an sich selbst einsam und schweigsam ist.
Der maßvolle Lehrer wurde sichtbar als einer, der zurücktrat. Aber der eigentliche, der mystische Lehrer des Tao erschien dadurch, daß er verschwand. Laotse ging nach Westen, über den Bergpaß, ward nicht mehr gesehen, ließ nur sein Buch zurück. Seine Person lebt nicht weiter, es sei denn als die entstellteste ; er ist im Gedächtnis der sogenannten Taoisten (einer Gruppe chinesischer Wundermänner niederer Art und ihrer Gläubigen» zum Zauberer geworden. Aus dem Taoteking, dem »Buch vom Tao und Leben«, lernen nun Goldmacher und Geisterbanner ihre Sprüche. Selbst wo Laotse als der Edle und Weise erinnert ist, zerfließt er zu einer kosmischen Gestalt, ist dann zu den verschiedensten Zeiten auf der Erde erschienen; Nachfolge wird auch dieserart nicht möglich. Bei alldem hat Laotse zweifelsohne gelebt, ein älterer Zeitgenosse des Konfuzius, im sechsten Jahrhundert v. Chr., ein einsamer Mann. Sein Buch enthält scharf persönliche Bekenntnisse: »Ich allein bin wie trübe, umhergetrieben als einer, der nirgends weilt« (Kap. 20). Aber trotz dieser seiner Wirklichkeit liegt über Laotse als Stifter der helle Nebel, der diesem Mann so gemäß ist, der sein Tun verringert, bis es anlangt beim Nicht-Tun, und der seine Spur verwischt. Laotse ist im chinesischen Familienstaat der Wander-Eremit, sittefeindlich, kulturfeindlich, nur im Unfaßbaren geborgen. Laotse entschwindet nicht nur nach Westen, über den Bergpaß, sondern wird ständig unsichtbar auf dem Weg des Tao. Also tritt zwar Laotse so deutlich wie Konfuzius mit seinem Namen auf, als Lehrer des stillen Wegs, doch noch deutlicher gibt er sich als verschwindend. Dieser Stifter ist derart durchaus profiliert, doch sein Profil ist so beschaffen wie das, worauf es blickt: es ist selber das mächtig Unscheinbare. Tao gibt Halt und leitet, doch auf seinem Weg steht keine sichtbare Mittlerperson, keine Sprachstatue; ist es doch das nicht Nennenswerte, das einzig der Nennung Würdige, und Laotse weiß seinen Namen nicht. Es ist unscheinbar und wie nichts: »Also auch der Berufene, er wirkt und behält nicht, ist das Werk vollbracht, so beharrt er nicht dabei. Er wünscht nicht, seine Bedeutung vor anderen zu zeigen« (Kap. 77). Mitte und Maß gelten auch hier, wie bei Konfuzius, doch, wie wenig ist das Maß zu Sitte und herrschender Regierung geeignet. »Verfahren des Tao ist es, die Fülle zu verringern, den Mangel zu ergänzen« (Kap. 77): dies Equilibrium zeigt andere Schalen und Gewichte, einen anderen Einstand des Zeigers als die Konfuzianische Gerechtigkeit. Schwerer als irgendeine religiöse Grundkategorie Ostasiens ist Laotses Tao in europäischen Begriffen angebbar; trotzdem ist es, ungesprochen am leichtesten verständlich. Als Religionskategorie der Weisheit, als Einklang mit der tiefen Ruhe, die die Wünsche erfüllt, indem sie sie vergißt. Als Einschwingung in den großen Pn, der alles Irdische klein macht und doch selber wieder lauter Kleinheit und Feinheit, lauter Absichtslosigkeit und Stille ist. Indem Störung durch Person völlig wegfällt, dringt Astralmythos sogar umfänglicher vor als bei Konfuzius, doch der Astralmythos der Laotse-Welt ist der sonderbarste: er enthält nichts als den leichten Atem eines Alls überall; sein Universum ist unausgedehnt unendlich, feierlich gering. Kosmos gibt sich als Zugeneigtheit in unermeßlicher Scheu, als der Paradoxtraum, human zu sein, ohne viel eigen Menschliches in sich aufzuweisen. Einen gewissen unabgelenkten Zugang zum Traumgrund dieser Absichtslosigkeit gibt jene chinesische Landschaftsrnalerei, die sich zwar großenteils unter viel späteren, nämlich buddhistischen Zeichen entwickelt hat, die aber trotzdem die wache, helle Stille des Tao, nicht den Tiefschlaf Nirwana, den überhaupt nicht malbaren, zeigt. Sinnbilder eines seienden, nicht etwa eines gegenstandslosen, wcltcrloschenen Schweigens gehen hier auf, tief in Tao-Kultur, die sich gehalten hat, bei Liang Kai, bei Ma Yüan, bei Hsia Kuei, alle um 1200 n. Chr., so lange nach Laotse, und alles spricht Weltsymbole der Gestilltheit. Hier erscheint diese als kahler, abgestorbener Zweig, dort als Kahn, von Schilf umgeben, bei steigendem Mond, dort als Hausdach unter einem Baum oder als Wasserfall oder als Felsversammlung, mit einem Menschen am Rande, selber als einsam-mitversammelte, eingesammelte, in Betrachtung versunkene Figur. Das ist Atem des Tao in seinem unendlich-endlichen Zuhause, ausgedrückt durchs Landschaftsbild; und Laotse hat genau diese Ruhe, diese ungewichtige Gewichtigkeit gepredigt. Im Unscheinbaren gepredigt, das das All in Gang hält, das es in Ruhe hält. Die Unterschiede von Konfuzius sind also erheblich; sie sind die Unterschiede des reinsten Mystikers unter den Stiftern von dem frömmsten Rationalisten unter ihnen. Konfuzius gibt das Maß, das leicht zu halten ist, Laotse das Einfache, das am schwersten getan wird. Konfuzius ist geschichtlich, liebt Berufung auf die Alten, Laotse ist geschichtsmüde, gibt kein einziges historisches Beispiel, und die Alten sind ihm nur vortrefflich wegen der Würze ihres Tao. Diese aber ist in jeder Zeit, nämlich in keiner, es ist der Uranfang im Altertum wie in der Gegenwart, das Unablässige als das Unaufhörliche. Und wie Geschichte, so ist auch überlieferte Moral, die bei Konfuzius kanonisch, für Laotse wertlos, gar Entartung: »Das Tao ward verlassen, so gab es Sittlichkeit und Pflicht, die Staaten kamen in Verwirrung und Unordnung, so gab es treue Diener« (Kap. 18). Ebenso: »Moral ist Dürftigkeit von Treu und Glauben und der Verwirrung Beginn, Vorbedacht ist Schein des Tao und der Verwirrung Anfang« (Kap. 38). Herrschaft, Vorbild, Kodex insgesamt, bei Konfuzius so hoch gestellt, daß Staatslehre und Metaphysik zusammenfielen, sind in Laotses Tao überflüssig, ja schädlich. Es lebt im Instinkt des Rechten, dem einzigen, der Menschen geblieben ist und der durch die Gesundheit der ganzen Welt geht; es lebt näher im Instinkt, wenn sich so sagen läßt, einer mystischen Demokratie: »Wären die Fürsten und Könige imstande, seine Hüter zu sein, so stellten sich alle Geschöpfe als Hüter zur Seite. Himmel und Erde vereinigten sich, süßen Tau fallen zu lassen, das Volk würde, ohne daß ihm jemand befiehlt, ganz von selber recht« (Kap. 32). Solche Frohbotschaft, eine der alles lösenden Anmut, liegt der Ideologie des Familienstaats, als eines autoritären, fern; trotz der Übergänge, die in manchen Ratschlägen des Konfuzius vorliegen, trotz der Superiorität, die dieser selber der Anmut über die Würde zugesteht. Bei Laotse ist alles Üppige, Großartige verlassen, die verführend milde Kunst der Weisheit erscheint, das Tao - längst nicht nur im Himmel, längst in der Nähe - ist ihr stiller Gott, gerade er voll Kontrastideologie gegen Anarchie und »Rechtsstaat« zugleich. Das zeigt sich am deutlichsten zuletzt in den Zentralgedanken Laotses (nur verbal hat er sie mit Konfuzius gemeinsam): im Grundsatz Nicht-Begehren, Nicht-Machen (wu yu, wu wei), in diesem Ruhezentrum des Tao selbst. Das Nicht-Machen wird von Fall zu Fall auch bei Konfuzius gepriesen, als abwartende Regierungsmaxime, bei Laotse wird es grundsätzlich. Im Reich des Tao wird nichts gemacht, der Putsch des Eingriffs stört sein Walten, nimmt seinen Genesungskräften (einem Gesunden an sich, als Akt selber, der nicht einmal immer Krankheit voraussetzt) die empfangende Stille, worin sie sich auswirken. Desgleichen ist nicht Quietismus im europäischen Sinn oder auch nur im Sinn des Kirchenlieds: »Herr, heb du den Wagen selb«; Ruhe des Tao ist ebenso naiver wie radikaler. Naiver, weil ein Stück unpfäffischer Gesundheit darinsteckt, ein Vertrauen auf Restitution des Gutgebauten aus sich selbst; radikaler, weil dieses Vertrauen sich auf durchgehenden Welttakt bezieht, nicht auf Gottes Schickung und ihre Hinnahme. Trotz aller eigenen Quietismen, die gerade in der Gelassenheitsform orientalischer Weisheit stecken, wäre es also falsch, Nicht-Machen, in der Fassung Laotses, mit Nicht-Wirken gleichzusetzen; konträr, gerade Nicht-Machen und nur dieses gilt hier als Wirkung verursachend. Machen steht hier im Gegensatz zur Lebendigkeit, Reifung, Gedeihung, als welche organische Spontaneität und so allein Gelingen ist: »Das hohe Leben ist ohne Handeln und ohne Absicht, das niedere Leben handelt und hat Absichten« (Kap. 38); »Das Reich erlangen kann man nur, wenn man frei bleibt von Geschäftigkeit. Die Vielbeschäftigten sind nicht geschickt, das Reich zu erlangen« (Kap. 48). Unüberhörbar spricht aus dieser Abneigung gegen mechanisch-abstraktes Machen chthonische Erinnerung, Glaube an die Erdmutter, die spendend-hütende; längst verschollenes Mutterrecht wirkt in der Maxime des Nicht-Machens nach als Spontaneität in Ruhe. Und nicht grundlos reproduziert, sublimiert gerade Laotses Lebens-Tao damit Bilder aus der frühen Mutterrechtszeit Chinas: ist doch Tao der uralte Name für eine tiergestaltige Weltgebärerin. So erlangt das Nicht-Machen seinen Anschluß an Demeter im Tao: »Der Geist der Tiefe stirbt nicht, das ist das Ewig-Weibliche. Endlos drängt sich's und ist doch wie beharrend, in seinem Wirken bleibt es mühelos« (Kap. 6); »Es wandelt im Kreise und kennt keine Unsicherheit, kann es fassen als die Mutter der Welt« (Kap. 25); »Ein großes Reich muß sich unten halten, so wird es der Vereinigungspunkt der Welt. Es ist das Weibliche der Welt, das Weibliche siegt durch seine Stille über das Männliche« (Kap. 61). Also ist Laotses Nicht-Machen durchaus mit einer Art mitwaltender Wirksamkeit verbunden: kraft seiner Allianz mit dem Puls der Welt, kraft seiner Abneigung gegen abstrakte Technik, die ohne Kontakt mit einer Natur als Mutter wirkt. Also enthält aber auch die verstandene Lehre des Nicht-Machens eine Maxime, die am Ende so fern von Quietismus sein kann, daß sie konkreter Handlung am wenigsten fremd bleibt, ja Revolution als Durchbruch ins Fällig-Rechte heiligt. Es ist die Maxime: Begonnen ist der Weg, vollende die Reise; dieses Sinns erklärt Laotse das Nicht-Machen als Einschwingung in die konkrete Wirkungskraft der Welt: »Wird Tao geehrt und das Leben gewertet, so bedarf es keiner Gebote, und die Welt geht von selber recht« (Kap. 51). Er spricht sogar einmal vom Machen des Nicht-Machens (wei wu wei), womit genau Herstellung der Konformität mit dem Welttakt gemeint ist, mit seinem mächtig-stillen Schlag. Teeduft zieht durch dieses Religions-All, so fern von Gewalttat, Roheit und Lärm; Anti-Barbarus ist hier am weltfrömmsten zu Glaube geworden, zur Mutterlandschaft des Waltens und Heilens. Ja der Friede, in dem Machen des Nicht-Machens sich bewegt, läßt Laotses Tao, ohne daß es irgendwo aus der Welt geriete, sogar als jene gänzliche Fülle von Unscheinbarkeit erscheinen, die das Stärkste im Schwächsten, das Wichtigste im Geringsten, fast Abwesenden sehen lassen mag. Daher hat Laotse dem Tao unter seinen vielen Gleichnissen noch dieses gegeben: »Dreißig Radspeichen treffen sich in einer Nabe; auf ihrem Nichts beruht des Wagens Brauchbarkeit. Man bildet Ton und macht daraus Gefäße; auf ihrem Nichts beruht der Gefäße Brauchbarkeit. Man durchbricht die Wand mit Türen und Fenstern, damit ein Haus entstehe; auf ihrem Nichts beruht des Hauses Brauchbarkeit. Darum: das Sein gibt Besitz, das Nichtsein Brauchbarkeit« (Kap. 11). Auch dieses Nichtsein freilich ist nicht akosmisch, es ist sowenig Nirwana, wie die weltabgeschiedene Versunkenheit in Absichtslosigkeit es war; auch Tao als Leere lebt, wie das Gleichnis der Radnabe besagt, in der Mitte der Welt. Und sein Nichtsein steht nicht kontra-diktorisch, nicht einmal disparat zum Sein, es bezeichnet vielmehr immer wieder das Unscheinbare des wahren Seins, mild und ohne Geschmack. Die Tao-Leere ist die des Nicht-Sonderlichen, aber auch immer wieder die des Ungesonderten und aus der Sonderung Rückkehrenden: »Große Fülle muß wie leer erscheinen, so wird sie unerschöpflich in ihrer Wirkung... Reinheit und Stille sind der Welt Richtmaß« (Kap. 45). Als solche Fülle und Stille waltet Tao-Leere durch die Welt; von Welt entleert und doch eben von nichts als Welt erfüllt. Die Frohbotschaft bleibt kosmomorph: »Der Mensch hat die Erde zum Vorbild, die Erde hat den Himmel zum Vorbild, der Himmel hat das Tao zum Vorbild, und das Tao hat sich selber zum Vorbild« (Kap. 25); - so gibt kosmischer Einklang Halt. Steht auch das Tao über dem Himmel, so ist es doch nichts Transzendentes, es schwingt vielmehr durch alle Nachbilder seines Vorbilds, in unablässiger Verteiltheit, in einem Takt, der bei Laotse ebensowohl der Ursprung wie die Norm des Rechten ist. Als solches Welt- und Nähewesen ist das Tao gerade auch politisch-theologisch ein Gott, so ohne alle Großartigkeit, daß es überhaupt keiner mehr im üblichen Herren-Sinn ist: »Es kleidet und nährt alle Geschöpfe, und es spielt nicht den Herrn«(Kap. 3 4). Nur eine einzige, überdies verdorbene Stelle im Taoteking (Kap. 4) spricht von einem höchsten Herrscher (Di), sei er als Himmelsgott oder auch nur als Gottkaiser des höchsten Altertums zu verstehen; doch ebendort wird der Höchste als bedingt durch das Tao dargestellt und dieses als das Frühere. Ein unpathetischer Welttakt verlangt keinen Herrn, und die Natur selber ist bei Laotse eine so alte Kultur, daß sie nicht den Herrn zu spielen braucht. Dieses Tao, wenn es so wäre, ließe in der Tat keinen Menschen zuschanden werden; es wäre die Welt ohne jede Irre darin. Richard Wilhelm, der dem chinesischen Religionstext am nächsten gekommen sein dürfte, will Tao mit »Für-sich-sein« wiedergeben (Tao te King, 1915, S. XX), mit einem Hegelschen Ausdruck folglich, der hier aber nicht einen Prozeß voraussetzen darf, wie Gesunden eine Krankheit. Trotzdem enthält das Tao Dialektik, nicht bloß als die der ständigen Selbstaufhebung seiner erlangten Bestimmung, sondern eben als Dialektik des Wandelns im Kreise, des Flusses im Fürsichsein: »Immer im Flusse, das ist: in allen Fernen; in allen Fernen, das ist: in sich zurückkehrend (Kap. 25). Vor allem aber bleibt Tao lautere Spontaneität in lauterer Ruhe, im Muttergrund des Waltens, woran das Menschenwesen sich identifizierend hält. Indem dies Menschenwesen dem Weltgrund allerdings so identisch wird, daß sein Leben wenn auf rechter Bahn befindlich, durchaus vom Weltgrund gelebt, ja gleichsam gegangen wird, hört das Menschenwesen als fortbildendes, supernaturierendes auf. Immer wieder schlägt so das Paradox eines Panhumanen ohne Menschen durch; Menschen verschwinden darin wie alle Dinge, ja wie zuhöchst das Tao selbst. Geheimes Wirken ewig waltender Natur, in diesem Göttlichen ohne Gott soll alles Menschliche ohne Mensch, alle Hoffnung ohne ein zu hoffen Nötiges, alles Seiende ohne Sein eingebettet sein. »Das höchste Leben erscheint als Leere, der große Ton hat unhörbaren Laut« (Kap. 41): die Subjekte verlieren sich im Tao wie Töne in einer so großen Harmonie, daß sie gleich der Gesundheit unfühlbar, gleich der Unablässigkeit unhörbar wird.
Aus andern Kapiteln :
Wären statt der Heiligen Drei Könige Konfuzius, Laotse, Buddha aus dem Morgenland zur Krippe gezogen, so hätte nur einer, Laotse, diese Unscheinbarkeit des Allergrößten wahrgenommen, obzwar nicht angebetet. Selbst er aber hätte den Stein des Anstoßes nicht wahrgenommen, den die christliche Liebe in der Welt darstellt, in ihren alten Zusammenhängen und ihren nach Herrenmacht gestaffelten Hierarchien. Jesus ist genau gegen die Herrenmacht das Zeichen, das widerspricht, und genau diesem Zeichen wurde von der Welt mit dem Galgen widersprochen: das Kreuz ist die Antwort der Welt auf die christliche Liebe.
Laotse der Weise warnt zwar unter bestimmten Umständen vor dem Leichtnehmen: »Das Gewichtige ist des Leichten Wurzel. Durch Leichtnehmen verliert man die Wurzel« (Taoteking, Spruch 26), aber er warnt nur vor Leichtigkeit im Sinn des Leichtsinns, ja der windigen Frivolität, die einen Herrscher »den Erdkreis leicht nehmen« läßt. Dagegen leuchtet gerade im Taoteking der Rat des Zarten, Mühelosen, Unaufdringlichen, was alles das Element des wahren Leichtseins im Gang der Dinge, in der wahren, spielenden Drehung um die wahre Mitte bedeutet.
Und der Rat leuchtet voll Unaufdringlichkeit gegen alles Aufgedonnerte, gegen den schwergewappneten und so nicht nur tierischen Ernst. Item, auch diesseits von Laotses stillstem Tao: »Daß er möglich ist, der Humor, bedeutet nicht, unter Tränen zu lächeln, in dem Sinn, daß man jederzeit aufs neue in Träumen eingesperrt, sein Leben glücklich und vornehm führen könne, indes der Grund der Welt unverändert, real traurig sei. Sondern sein Leichtmachen, Herausheben bedeutet gerade- und hier blitzt ein feiner, rätselhafter Lichtstrahl, ein nur von innen genährtes, unerklärliches, in nichts gestütztes, mystisches Wissen ins Leben herein -, daß darin etwas nicht stimmt, daß die Tränen nicht ganz ernst zu nehmen sind gegen unsere unsterbliche Seele, so entsetzlich real sie auch mitsamt dem Weltgrund erscheinen mögen, dem sie entstammen; daß der Goethische Satz: Gut Gedicht wie Regenbogen ist auf dunklen Grund gezogen, wohl für die tiefen, aber nicht für die wesenhaftesten Äußerungen gilt; daß mithin das Träumen, das scheinbar so völlig illusionshafte Hoffenkönnen, das bedeutsame, zwar beantwortete, aber in nichts garantierte Leichtsein, das unbegreiflich sich Freuen an sich, - der Wahrheit und Realität, die ja nicht der Weltgrund zu sein braucht, näher steht als all das Drückende, Belegbare, Unzweifelhafte der faktischen Umstände mit ihrer gesamten sinnlich realsten Brutalität«.
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