Buber, Martin. Die Lehre vom Tao [ID D11978].
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Über den Theorien von Rassen und Kulturen ist in unserer Zeit das alte Wissen vernachlässigt worden, daß der Orient eine natürliche, in seinen Werten und Werken geäußerte Einheit bildet: daß über seinen Volksgliedern sich eine Gemeinsamkeit erhebt, die ihn von Schicksal und Schöpfung des Abendlandes in unbedingter Klarheit sondert. Die genetische Erklärung dafür, die hier nicht darzulegen ist, hat ihre Begründung natürlicherweise an den verschiedenen Bedingungen nicht bloß im Raum, sondern auch in der Zeit, da ja die im Geistigen bestimmende Epoche des Orients einem andern Menschheitsmoment zugehört als die des Abendlandes.
Hier ist die Einheit des Orients nur andeutend zu erweisen an einer Erscheinung, die freilich unter allen die wesentliche ist: an der Erscheinung der Lehre.
In seinem Urzustande ist der morgenländische Geist, was aller Menschengeist im Urzustände ist: Magie. Das ist sein Wesen, daß er der mit tausendfältiger Drohung einstürmenden Ungebundenheit der Natur mit seiner Gebundenheit entgegentritt, der bindende, das ist magische Gewalt innewohnt. Geregeltes Wort, geordnete Bewegung, Zauberspruch und Zaubergeste zwingen das dämonische Element in Regel und Ordnung. Alle primitive Technik und alle primitive Organisation sind Magie; Werkzeug und Wehr, Sprache und Spiel, Brauch und Bund entspringen magischer Absicht und dienen in ihrer Urzeit magischem Sinn, aus dem sich ihr Eigenleben erst allmählich herauslöst und verselbständigt. Diese Herauslösung und Verselbständigung vollzieht sich im Orient sehr viel langsamer als im Abendlande. Im Abendlande hat das Magische nur in der Volksreligiosität, in der sich die undifferenzierte Ganzheit des Lebens bewahrt hat, lebendige Dauer; auf allen andern Gebieten ist die Lösung schnell und vollständig. Im Orient ist sie langsam und unvollständig: an den Produkten der Scheidung haftet noch lange der magische Charakter. So verharrt zum Beispiel die Kunst des Orients vielfach auch nach Erlangung der bildnerischen Freiheit und Macht noch in der magischen Intention, wogegen ihr im Abendlande die Erreichung dieser Höhe das Eigenrecht und den Eigenzweck verleiht.
Unter den drei Grundmächten, in denen sich der weisende Geist des Morgenlandes (von dem gestaltenden Geist sehe ich hier ab) aufbaut und von denen der Okzident nur zwei - sie seien Wissenschaft und Gesetz genannt - schöpferisch besitzt, ist es die dritte - sie sei die Lehre genannt —, die sich vom magischen Urboden am vollständigsten zu lösen vermag.
Es scheint mir zum Verständnis des Orients nötig, diese Grundmächte in aller Deutlichkeit voneinander abzuheben. Die »Wissenschaft« umfaßt alle Kunde von einem Sein, irdischem und himmlischem, die niemals und nirgends voneinander geschieden sind, sondern sich zur Welt des Seins zusammenschließen, die der Gegenstand der Wissenschaft ist.
Das »Gesetz« umfaßt alles Gebot eines Sollens, menschlichen und göttlichen, die niemals und nirgends voneinander geschieden sind, sondern sich zur Welt des Sollens zusammenschließen, die der Gegenstand des Gesetzes ist.
Wissenschaft und Gesetz gehören stets zueinander, so daß das Sein sich am Sollen bewährt, das Sollen am Sein sich begründet. Der wachsende Zwiespalt zwischen Sein und Sollen, Wissenschaft und Gesetz, der die Seelengeschichte des Okzidents charakterisiert, ist dem Orient fremd.
Zu Wissenschaft und Gesetz tritt als die dritte Grundmacht des morgenländischen Geistes die Lehre.
Die Lehre umfaßt keine Gegenstände, sie hat nur einen Gegenstand, sich selber: das Eine, das not tut. Sie steht jenseits von Sein und Sollen, von Kunde und Gebot; sie weiß nur eins zu sagen: das Notwendige, das verwirklicht wird im wahrhaften Leben. Das Notwendige ist keineswegs ein Sein und der Kunde zugänglich; es wird nicht vorgefunden, weder auf Erden noch im Himmel, sondern besessen und gelebt. Das wahrhafte Leben ist keineswegs ein Sollen und dem Gebote Untertan; es wird nicht übernommen, weder von Menschen noch von Gott, sondern es kann nur aus sich selbst erfüllt werden und ist ganz und gar nichts andres als Erfüllung. Wissenschaft steht auf der Zweiheit von Wirklichkeit und Erkenntnis; Gesetz steht auf der Zweiheit von Forderung und Tat; die Lehre steht ganz und gar auf der Einheit des Einen, das not tut. Man darf immerhin den Sinn, den die Worte Sein und Sollen in Wissenschaft und Gesetz haben, von Grund aus umwandeln und das Notwendige als ein Sein bezeichnen, das keiner Kunde zugänglich ist, das wahrhafte Leben als ein Sollen, das keinem Gebote Untertan ist, und die Lehre sodann als eine Synthese von Sein und Sollen. Aber man darf, wenn man es tut, diese Rede, die für Wissenschaft und Gesetz ein Widersinn ist, nicht dadurch eitel und zunichte und präsentabel machen, daß man Kunde und Gebot durch eine »innere« Kunde, durch ein »inneres« Gebot ersetzt, mit denen die Lehre zu schaffen habe. Diese Phrasen einer hergebrachten gläubig-aufklärerischen Rhetorik sind nichts als wirrer Trug. Der dialektische Gegensatz von Innen und Außen kann nur zur symbolischen Verdeutlichung des Erlebnisses dienen, nicht aber dazu, die Lehre in ihrer Art von den andern Grundmächten des Geistes abzuheben. Nicht das ist das Eigentümliche der Lehre, daß sie sich mit der Innerlichkeit befaßte oder von ihr Maß und Recht empfinge; es wäre unsinnig, Wissenschaft und Gesetz um die gar nicht von der äußeren zu sondernde »innere Kunde«, um das gar nicht von dem äußern zu sondernde »innere Gebot« schmälern zu wollen. Vielmehr ist dies das Eigentümliche der Lehre, daß sie nicht auf Vielfaches und Einzelnes, sondern auf das Eine geht und daß sie daher weder ein Glauben noch ein Handeln fordert, die beide in der Vielheit und Einzelheit wurzeln, daß sie überhaupt nichts fordert, sondern sich verkündet. Dieser wesenhafte Unterschied der Lehre von Wissenschaft und Gesetz dokumentiert sich auch im Historischen. Die Lehre bildet sich unabhängig von Wissenschaft und Gesetz, bis sie in einem zentralen Menschenleben ihre reine Erfüllung findet. Erst im Niedergang, der bald nach dieser Erfüllung beginnt, vermischt sich die Lehre mit Elementen der Wissenschaft und des Gesetzes. Aus solcher Vermischung entsteht eine Religion: ein Produkt der Kontamination, in dem Kunde, Gebot und das Notwendige zu einem widerspruchsvollen und wirksamen Ganzen verschweißt sind. Nun wird so Glauben wie Handeln gefordert: das Eine ist entschwunden.
Lehre und Religion, beide sind nicht Teilmächte, wie Wissenschaft und Gesetz, sondern repräsentieren die Ganzheit des Lebens. Aber in der Lehre sind alle Gegensätze der Ganzheit in dem Einen aufgehoben wie die sieben Farben im weißen Licht; in der Religion sind sie zur Gemeinschaft verbunden wie die sieben Farben im Regenbogen. Die Magie, die Wissenschaft und Gesetz umrandete, die Lehre aber nicht anrühren konnte, ergreift Besitz von der Religion. Ihre bindende Gewalt bindet die auseinanderstrebenden Elemente zum schillernden Zauberwirbel, der die Zeiten beherrscht.
Zwischen der Lehre und der Religion, von der einen zur andern führend, stehen Gleichnis und Mythus. Beide schließen sich an das zentrale Menschenleben, in dem die Lehre ihre reinste Erfüllung gefunden hat: das Gleichnis als das Wort dieses Menschen selber, der Mythus als der Niederschlag seines Lebens in dem Bewußtsein der Zeit. Demgemäß scheint das Gleichnis noch ganz auf der Seite der Lehre, der Mythus schon ganz auf der Seite der Religion zu stehen. Dennoch tragen beide die Vermittlung in sich. Dies ist aus dem Wesen der Lehre zu verstehen, wenn sie in ihrem Verhältnis zu den Menschen betrachtet wird.
Die Lehre hat nur einen Gegenstand: das Notwendige. Es wird verwirklicht im wahrhaften Leben. Vom Menschen aus gesehen, bedeutet diese Verwirklichung nichts anderes als die Einheit. Das ist aber nicht, wie es scheinen mag, eine abstrakte Bestimmung, sondern die allerlebendigste. Denn die Einheit, die gemeint ist, ist ja nicht die zusammenfassende Einheit einer Welt oder einer Erkenntnis, nicht die gesetzte Einheit des Geistes oder des Seins oder irgendeines gedachten oder gefühlten oder gewollten Dinges, sondern sie ist die Einheit dieses Menschenlebens und dieser Menschenseele, die sich in sich selber erfüllt, deines Lebens und deiner Seele Einheit, du von der Lehre Ergriffener. Das wahrhafte Leben ist das geeinte Leben.
Es gibt aber, wie es zweierlei Güte und zweierlei "Weisheit gibt, elementare und gewonnene, so auch zweierlei Einheit im Menschen, an der sich die Lehre als deren Weihung bewähren und verwirklichen kann: die Einheit der Einfältigen und die Einheit der Einsgewordenen. In der Zeit ihrer Bildung spricht die Lehre nur zu den Einsgewordenen. Aber sowie der zentrale Mensch erscheint, dessen gewonnene Einheit die Reinheit und die schlichte Kraft der elementaren hat, muß er die Einfältigen suchen, seine armen Brüder im Geiste, daß ihre tiefe Einheit, die all ihre Sünden und Narrheiten im Schöße hegt, sich über Sünde und Narrheit heilige.
Und er spricht zu ihnen in der Sprache, die sie hören können: im Gleichnis. Und wenn er stirbt, ist ihnen sein Leben zum Gleichnis geworden. Ein Leben aber, das zum Gleichnis wurde, heißt Mythus.
Das Gleichnis ist die Einstellung des Absoluten in die Welt der Dinge. Der Mythus ist die Einstellung der Dinge in die Welt des Absoluten.
Auch schon solange die Lehre nur zu den Einsgewordenen spricht, kann sie des Gleichnisses nicht entraten. Denn die nackte Einheit ist stumm. Nur aus den Dingen, Vorgängen und Beziehungen kann sie Sprache gewinnen: es gibt keine Menschensprache jenseits der Dinge, der Vorgänge und der Beziehungen. Sowie die Lehre zu den Dingen kommt, kommt sie zum Gleichnis. Solange jedoch die Lehre nur zu den Einsgewordenen spricht, ist das Gleichnis nur ein Glas, durch das man das Licht von einem Farbensaum umrahmt schaut. Aber sobald die Lehre durch ihren zentralen Menschen zu den Einfältigen zu reden beginnt, wird das Gleichnis zum Prisma. So leitet die Erfüllung zur Aufhebung hinüber, und im Gleichnis des Meisters ruht schon keimend aller Riten Rausch und aller Dogmen Wahn.
Und hinwieder wird auch das Leben des zentralen Menschen nicht im Spiegelglas, sondern im Prisma aufgefangen: es wird mythisiert. Mythus heißt nicht: die Gestirne auf die Erde herabbringen und in Menschengestalt auf ihr wandeln lassen, sondern die beseligende Menschengestalt wird in ihm zum Himmel erhoben, und Mond und Sonne, Orion und die Plejaden dienen nur dazu, sie zu schmücken. Mythus ist auch nicht ein Ding von dort und ehedem, sondern eine Funktion von heut und allezeit, von dieser Stadt, in der ich schreibe, und allen Orten des Menschen. Eine ewige Funktion der Seele: die Einstellung des Erlebten in den bald mehr triebhaft, bald mehr gedankenhaft, aber auch vom Dumpfsten noch irgendwie empfundenen Weltprozeß, in die Magie des Daseins. Je stärker die Spannung und Intensität des Erlebens, je größer die erlebte Gestalt, das erlebte Ereignis, desto zwingender die mythenbildende Gewalt. Wo die höchste Gestalt, der Held und Heiland, das erhabenste Ereignis, sein dargelebtes Leben, und die mächtigste Spannung, die der erschütterten Einfältigen, zusammentreffen, entsteht der Mythus, der die Zukunft bestimmt. So geht der Weg zur Aufhebung weiter; denn im Mythus des Heilands ruht schon keimend das Bekenntnis zum kleinen Wunder und der Mißbrauch der Wahrheit von Heil und Erlösung. Die Aufhebung vollzieht sich in der Religion, und sie vollendet sich in der perpetuierten Gewalttat, die sich Religion nennt und die Religiosität in Fesseln hält. Immer wieder erwacht in den Seelen der Religiösen die Inbrunst nach der Freiheit: nach der Lehre; immer wieder wird Reformation, wird Wiederbringung, Erneuung der Lehre gewagt; immer wieder muß sie mißlingen, muß die glühende Bewegung statt in der Lehre in einer Mischung von Wissenschaft und Gesetz, der sogenannten geläuterten Religion münden. Denn die Lehre kann nicht wiedergebracht, nicht erneut werden. Ewig die eine, muß sie doch ewig von neuem beginnen. In dieser Bahn vollzieht sich die Geschichte der höchsten Erscheinung morgenländischen Geistes.
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Daß aber die Lehre ewig von neuem beginnt, das ist keineswegs etwa so zu verstehen, als ob sie ein Inhalt wäre, der verschiedene Formen annimmt, wie die es meinen, die die Wege der Lehre durchforschen und vergleichen, um das Gemeinsame zu ermitteln. Der Gegensatz von Inhalt und Form erscheint uns vielmehr als ein dialektischer Gegensatz, der die Geschichte nicht klärt, sondern trübt, geradeso wie er die Kunstanschauung nicht klärt, sondern trübt. Der Logos des Johannesevangeliums, das bedeutsamerweise der sprachlichen Welt entnommene Symbol des Urdaseins, ist wie ein Wahrzeichen gegen die Übergriffe dieser Dialektik aufgerichtet. »Das Wort« ist »im Anfang«, weil es die Einheit ist, die dialektisch zerlegt wird. Eben deswegen ist es der Mittler: weil es zu den Produkten der Zerlegung, etwa zu Gottheit und Menschheit oder, anders betrachtet, zu »Gott Vater« und dem »Heiligen Geist«, die Einheit stellt, die sie verbindet, die ursprüngliche, zerschiedene und fleischgeworden die Elemente wieder versöhnende Einheit. »Das Wort« ist damit der Genösse jedes echten Menschenwortes, das ja auch nicht ein Inhalt ist, der eine Form angenommen hat, sondern eine Einheit, die in Inhalt und Form zerlegt wird - eine Zerlegung, die die Geschichte des Menschenwortes und die Geschichte jedes einzelnen Menschen wertes nicht klärt, sondern trübt, und deren Recht daher nicht über den Bezirk der begrifflichen Einordnung hinauslangen darf. Ebenso verhält es sich mit der Lehre.
Die Lehre verkündet, was sie ist: die Einheit als das Notwendige. Dies ist aber keineswegs ein Inhalt, der verschiedene Formen annimmt. Wenn wir jeden Weg der Lehre in Inhalt und Form zerlegen, erhalten wir als den »Inhalt« nicht die Einheit, sondern die Rede von dem Himmelreich und der Gotteskindschaft, oder die Rede von der Leidenserlösung und dem heiligen Pfad, oder die Rede von Tao und dem Nichttun. Das kann nicht anders sein; denn die Einheit war eben mehr als der Inhalt Jesu oder Buddhas oder Lao-Tses, mehr als das, was sie aussprechen wollten, sie war der Sinn und der Grund dieser Menschen. Sie war mehr als der Inhalt ihres Wortes, sie war dieses Wortes Leben und dieses Wort selbst in seiner Einheit. Daher ist das Grundverhältnis, mit dem wir es hier zu tun haben, nicht das von Inhalt und Form, sondern, wie noch darzulegen sein wird, das von Lehre und Gleichnis. Man hat versucht, die Einheit nun doch wieder zu einem Inhalt, zu einem »gemeinsamen« Inhalt zu machen, indem man sie aus der Einheit des wahrhaften Lebens zur Einheit Gottes oder des Geistes oder des Seins machte, die den Wegen der Lehre gemeinsam sei - etwa nach der Analogie des modernen Monismus, der eine in irgendeiner Weise beschaffene »Einheit des Seins« statuiert. Es ist aber der Lehre durchaus nicht wesentlich, sich um das Wesen Gottes als eines Seienden zu bekümmern. Bei Buddha ist dies ja ganz offenbar; aber auch schon in den Upanischaden ist doch nicht das die Bedeutung der Lehre vom Atman, daß damit eine Aussage über die Einheit des Seins gemacht würde, sondern daß, was man Sein nennt, nichts anderes ist als die Einheit des Selbst und daß also dem Geeinten die Welt als Sein, als Einheit, als sein Selbst entgegentritt. Ebenso ist es dem Urchristentum nicht um die Einheit Gottes zu tun, sondern um die Wesensgleichheit des geeinten Menschen mit Gott; auch hier ist das Seiende gewissermaßen nur um des Notwendigen willen da. Und das gleiche gilt von der Tao-Lehre, wo alles, was von der »Bahn« der Welt gesagt wird, auf die Bahn des Vollendeten hinweist und in ihr seine Bewährung und Erfüllung erhält.
Es muß einem heutigen Abendländer freilich schwer werden, dies ganz zu realisieren, insbesondere dem philosophisch Geschulten, dem das Notwendige etwa das sub specie aeterni gesehene Sein, die Einheit etwa der Akt des Zusammensehens in der Erkenntnis ist. Der heutige Abendländer subsumiert, was nicht zu subsumieren ist. Die Lehre bekümmert sich um das Sein ebensowenig, wie sie sich um das Sollen bekümmert, sondern allein um die Wirklichkeit des wahrhaften Lebens, die primär und unsubsumierbar ist. Es ist ihr daher auch nicht von der Scheidung zwischen Subjekt und Objekt aus beizukommen, so daß man die Einheit wohl nicht mehr ins Objekt, dafür aber ins Subjekt verlegte; sondern diese Scheidung ist für den Menschen der Lehre entweder überhaupt nicht da, oder sie ist ihm nur die reine Formel für jenen vielgestaltigen dialektischen Gegensatz, auf dessen Aufhebung die Lehre errichtet ist.
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Der Weg der Lehre ist demgemäß nicht der zur Ausbildung einer Erkenntnis, sondern der zur reinen Erfüllung in einem zentralen Menschenleben. Das ist an den drei Erscheinungen der Lehre, die uns in hinlänglicher Dokumentation überliefert sind, mit größerer oder geringerer Klarheit zu gewahren.
Diese drei Erscheinungen sind: die chinesische Tao-Lehre, die indische Erlösungslehre, die jüdisch-urchristliche Lehre vom Reiche Gottes. Auch dieser Erscheinungen Dokumentation reicht nicht hin, um ihren Weg ganz zu überschauen. So wissen wir von der werdenden jüdisch-urchristlichen Lehre einiges von den Lebensgemeinschaften, die sie trugen - von den Rechabiten (Jeremia 35) bis zu den Essäern, auf deren uralte Tradition trotz aller Übertreibungen wohl mit Recht hingewiesen wird -, aber sehr wenig von den Worten dieses sozusagen unterirdischen Judentums, die wir nur dürftig aus späten Quellen erschließen oder erahnen können. Hinwieder sind uns in den Schriften der Tao-Lehre Sprüche der »Alten« überliefert, die uns die lange Vorexistenz der Lehre verbürgen, und diese wird auch durch Äußerungen von gegnerischer Seite bestätigt; aber von den Lebensformen, in denen sie sich fortpflanzte, haben wir nur ganz unzulängliche Nachricht. Nicht einmal das indische Schrifttum, von allen das unvergleichlich größte, bietet eine vollständige Anschauung des Zusammenhangs. Immerhin genügt das Material, um zu zeigen, wie sich die Lehre unabhängig von Wissenschaft und Gesetz bildet und wie sie sich im zentralen Menschen erfüllt, der Wissenschaft und Gesetz ohne Kampf, lediglich durch die Lehre und das Leben überwindet. So überwindet Buddha die vedische Wissenschaft mit der Aufhebung der »Ansicht«, die dem Vollendeten nicht zustehe, im »Pfad«, und das brahmanische Gesetz mit der Aufhebung der Kasten im Orden. So überwindet Lao-Tse die offizielle Weisheit durch die Lehre vom »Nichtsein«, die offizielle Tugend durch die Lehre vom »Nichttun«.
Und auch dies können wir an den Erscheinungen der Lehre sehen, daß der zentrale Mensch der Lehre kein neues Element zubringt, sondern sie erfüllt. »Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.« So sagt auch Lao-Tse von sich, er habe nur das Unerkannte der Vorzeit, die Ahnung des Einen, die im Wort des Volkes ruht, zu erfüllen. Er führt etwa den Spruch an: »Gewalttätige erreichen nicht ihren natürlichen Tod«, und fügt hinzu: »Was die andern lehren, lehre ich auch: ich will daraus einen Vatergrund der Lehre machen.« Dies entspricht den Worten der Bergpredigt: »Ich aber sage euch«; denn Gewalt ist schon an sich für Lao-Tse das Tote, das Leblose in der Welt, weil sie das Taolose ist. Erfüllen bedeutet hier wie dort: ein Überliefertes aus dem Bedingten ins Unbedingte heben.
Der zentrale Mensch bringt der Lehre kein neues Element zu, sondern erfüllt sie; das heißt: er hebt sie zugleich aus dem Unerkannten ins Erkannte und aus dem Bedingten ins Unbedingte. In ihrer höchsten Wahrheit erweist sich diese Unbedingtheit des Erfüllenden, welche die Welt der Bedingten wider ihn setzt, erweist sich diese seine Kraft der Erfüllung in seinem Leben. In unvergleichbar höherem Maße noch als vom großen Herrscher, vom großen Künstler und vom großen Philosophen gilt von ihm, daß alles Zerstreute, Flüchtige und Fragmentarische in ihm zur Einheit zusammenwächst; sein Leben ist diese Einheit. Der Herrscher hat seine Völkergestaltung, der Künstler hat sein Werk, der Philosoph hat seinen Ideenbau; der Erfüllende hat nichts als sein Leben. Seine Worte sind Stücke dieses Lebens, jedes Vollstrecker und Urheber, jedes vom Schicksal eingesprochen und vom Schicksal aufgefangen, das Heer der Stimmen durch diesen Menschenleib ins Endgültige wandelnd, die schwache Regung vieler Toten in ihm zur Macht gebunden, er das Kreuzesholz der Lehre, Erfüllung und Aufhebung, Heil und Untergang. Darum gibt es Logia, die kein Zweifel anzutasten vermag und die sich, durch die Geschlechter schreitend, auch ohne Schrift unvermischt erhalten kraft der Schicksalsprägung und der elementaren Einzigkeit der erfüllenden Rede. Denn der Erfüllende, der aus allem gebunden ist und doch aus dem Nichts kommt, ist der einzigste Mensch. Obgleich alles Suchen ihn begehrte und alle Einkehr ihn ahnte, wird er, wenn er erscheint, von wenigen erkannt, und diese wenigen sind wohl gar nicht von denen, die ihn ahnten und begehrten: so groß ist seine Einzigkeit — so unoriginell, so unscheinbar, so ganz und gar die letzte Echtheit des Menschentums. Am sichtbarsten ist dies an Jesus, an dem das Zeugnis, wie es scheint, durch den Tod, das einzige Absolute, das der Mensch herzugeben hat, vollendet worden ist. Ihm zunächst steht Buddha. Lao-Tses Leben bietet sich am wenigsten dar. Das liegt daran, daß es eben das Leben seiner Lehre, ein verborgenes Leben war. In dem kargen Bericht des Geschichtsschreibers ist alles darüber gesagt; von seinem Leben: »Seine Lehre war die Verborgenheit des Selbst: namenlos zu werden war das, wonach er strebte«; und von seinem Tode: »Niemand weiß, wo er geendet hat: Lao-Tse war ein verborgener Weiser.«
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Wie das Leben Lao-Tses, so ist auch seine Lehre die verborgenste, denn sie ist die gleichnisloseste.
Die nackte Einheit ist stumm. Sowie die Einheit aus Grund und Ziel eines ausgesonderten, in das wortlose Wunder versunkenen Menschentums zur Lehre wird, sowie sich in diesem Manne das Wort bewegt - in der Stunde der Stille, vor Tag, wo noch kein Du ist als das Ich, und die einsame Rede im Dunkel den Abgrund hinüber und herüber mißt —, ist die Einheit schon vom Gleichnis berührt. Der Mensch redet seine Worte, wie der Logos die Menschen redet: sie sind nicht mehr reine Einheit - es ist schon die Vielheit, das Gleichnis darin. Aber wie die Vielheit der Menschen, solange sie Kinder sind, noch an die Einheit gebunden ist und das Gleichnis nur so auf ihnen ruht wie das Lächeln auf ihren Lippen, so ist die Rede des Ausgesonderten in der Stunde der Stille nur erst vom Gleichnis berührt wie von einem Lächeln. Und wie die Vielheit der Menschen, wenn sie erwachsen und selber Kinder zeugen sollen, sich von der Einheit löst und das Gleichnis so in ihnen strömt wie das Blut in ihren Adern, so ist die Rede des Erfüllenden, wenn er zu den Menschen geht, vom Gleichnis durchflossen wie vom Blute.
Wie aber zwischen Kindheit und Mannheit die Zeit der Jugend steht, das ist die Tragödie, die sich unmerklich versöhnt, bis sie verschwunden ist, so steht zwischen Einsamkeit und Predigt die Zeit des Übergangs, die sich freilich nicht unmerklich versöhnt, sondern sich entscheidet. Buddha nennt sie die Zeit der Versuchung. Er spricht zum Versucher: »Nicht eher werde ich, o Böser, ins Nirwana eingehen, bis nicht dieser mein unsträflicher Wandel gediehen sein wird und zur Blüte gekommen, weithin verbreitet, bei vielen zu finden, reich entfaltet, so daß er von den Menschen schön geoffenbart ist.« In dieser Zeit ist das Gleichnis nicht mehr das Lächeln, noch nicht das Blut: es ist noch auf dem Geiste, schon in dem Geiste — wie der Traum. Wie die Jugend im Traum steht, so steht der Übergang im Traum. Darum ist das Wort der Einsamkeit der Schrei, und das Wort der Predigt die Erzählung; aber das Wort des Übergangs ist das Bild.
Es gibt jedoch ein Leben, in dem der Übergang nicht von der Einsamkeit zur Predigt führt, sondern von der Einsamkeit der Frage zur Einsamkeit der Fülle, von der Einsamkeit des Abgrunds zur Einsamkeit des Meeres. Das ist das verborgene Leben. Ich glaube, daß dieser Mensch wie die andern versucht wird. Und wie die andern geht er nicht ins Nirwana ein, aber er geht auch nicht zu den Menschen; er geht in die Verborgenheit. Die Verborgenheit soll ihm seine Kinder gebären. »Der seine Helle kennt, sich in sein Dunkel hüllt«, so nennt ihn Lao-Tse [Victor von Strauss]. Was ist diesem Menschen die Predigt? »Der Himmel redet nicht und weiß doch Antwort zu finden.« Was ist ihm die Mannheit?
»Der seine Mannheit liebt, an seiner Weibheit hält, der ist das Strombett aller Welt.«
Dieser Mensch redet nicht zu sich und nicht zu den Menschen, sondern in die Verborgenheit. Wiewohl er selbst nicht auf dem Wege zu den Menschen ist, so ist doch sein Wort notwendigerweise auf dem Wege zum Gleichnis; er ist nicht im Übergang; aber sein Wort ist das Wort des Übergangs geblieben: das Bild. Seine Rede ist nicht eine volle Gleichnisrede wie die Buddhas oder Jesu, sondern eine Bilderrede. Sie gleicht einem Jüngling, der sich noch nicht von der Einheit zum Gleichnis gelöst hat wie der Mann, der nicht mehr an die Einheit gebunden ist wie das Kind. Aber das wäre ein Jüngling, wie wir ihn etwa in Hölderlins Gedichten ahnen: der nicht das über sich Hinausstrebende des Traums und der Tragödie hat, sondern nur die seherische Fülle der Jugend, ins Unbedingte und Ewige gekehrt, wo der Traum zur Mantik und die Tragödie zum Mysterium geworden ist. Verborgenheit ist die Geschichte von Lao-Tses Rede. Mag die Predigt von Benares, mag die Bergpredigt noch so mythisiert sein — daß dem Mythus eine große Wahrheit zugrunde lag, ist unverkennbar. In Lao-Tses Leben ist nichts, was diesem entspräche. Seiner Rede, dem Buche, merkt man überall an, daß es gar nicht das war, was wir Rede nennen, sondern nur wie das Rauschen des Meeres aus seiner Fülle, wenn ein leichter Wind es berührt. In dem kargen Bericht des Geschichtsschreibers ist auch dies mitgeteilt oder dargestellt. Lao-Tse geht in seine letzte Verborgenheit; er verläßt das Land, in dem er gewohnt hat. Er erreicht den Grenzpaß. Der Befehlshaber des Grenzpasses spricht zu ihm: »Ich sehe, daß Ihr in die Verborgenheit geht. Wollet doch ein Buch für mich schreiben, ehe Ihr geht.« Darauf schreibt Lao-Tse ein Buch in zwei Abteilungen, das ist das Buch von Tao und der Tugend, in fünftausend und etlichen Worten. Sodann geht er. Und unmittelbar daran schließt sich in dem Bericht, was ich früher anführte: »Niemand weiß, wo er geendet hat.« Nachricht oder Sinnbild, gleichviel: dies ist die Wahrheit über Lao-Tses Rede. »Die es wissen, reden es nicht; die es reden, wissen es nicht«, heißt es in seinem Buche. Seine Rede ist nur wie das Rauschen des Meeres aus seiner Fülle. Die Lehre Lao-Tses ist bildhaft, aber gleichnislos, wofern wir an das vollständige Gleidmis denken, das vom Bilde zur Erzählung wurde. So übergab er sie der Zeit. Hunderte von Jahren vergingen darüber, da kam die Lehre an einen, der - sicherlich, wie alle großen Dichter, vieles Volksgleichnis in sich sammelnd - ihr Gleichnis dichtete. Dieser hieß Tschuang-Tse.
Nicht also wie in der Lehre Jesu und Buddhas ist das Gleichnis in der Tao-Lehre das unmittelbare, im zentralen Menschen erwachsene Wort der Erfüllung, sondern es ist die Dichtung eines, dem die Lehre schon in ihrer Erfüllung übergeben war. Zerfallen ist die Erscheinung der Tao-Lehre in das erste Wort, das der nackten Einheit so nahe steht wie kein anderes Wort der Menschenwelt, und in das zweite Wort, in dem die Einheit so reiche und zärtliche Gewandung trägt wie in keinem andern Wort der Lehre, sondern allein in den großen Gedichten der Menschenwelt.
Beide aber zusammen erst geben uns die vollkommene Gestalt der Lehre in ihrer reinsten Erscheinung: wie sie Tao, »die Bahn«, Grund und Sinn des geeinten Lebens, als den Allgrund und Allsinn verkündet.
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Tschuang-Tse lebte in der zweiten Hälfte des vierten und in der ersten des dritten Jahrhunderts v. Chr., also etwa 250 Jahre nach Lao-Tse (Ich vermag der neuerdings sich geltend machenden Spätdatierung Lao-Tses nicht zuzustimmen). Während aber jener andere Apostel, der seinen Meister nicht leiblich kannte, Paulus, dessen Lehre von der Einheit des wahrhaften Lebens zersetzte und in einen ewigen Gegensatz von Geist und Natur - den man nicht aufheben, dem man nur entweichen könne - verkehrte, war Tschuang-Tse in Wahrheit ein Sendbote seiner Lehre: ihr Sendbote zu den Dingen der Welt. Denn daß er ihr Gleichnis dichtete, das ist ja nicht so zu verstehen, als hätte er sie an den Dingen »erklärt« oder auf die Dinge »angewendet«. Vielmehr trägt das Gleichnis die Einheit der Lehre in alle Welt hinein, so daß, wie sie es zuvor in sich umhegte, nun das All ihrer voll erscheint, und kein Ding ist so gering, daß sie sich weigerte, es zu füllen. Wer solcherart die Lehre nicht eifernd verbreitet, sondern sie in dem Wesen offenbart, der gewährt jedem, die Lehre nun auch in sich zu entdecken und zu beleben. Solch ein Apostolat ist still und einsam, wie die Meisterschaft, der es dient, still und einsam war. Es wohnt nicht mehr wie jene in der Verborgenheit, aber es ist durch keine Pflicht und durch keinen Zweck mit den Menschen verbunden. Der Geschichtsschreiber teilt uns fast nichts anderes aus Tschuang-Tses Leben mit als dies, daß er arm war und die Ämter, die ihm angeboten wurden, mit den Worten ablehnte: »Ich werde nie ein Amt annehmen. So werde ich frei bleiben, mir selbst zu folgen.« Dasselbe geht aus den in seinen Büchern verstreuten, offenbar von Schülerhand herrührenden Lebensnachrichten hervor. Und nichts anderes besagt der Bericht über sein Sterben. Er verbietet, ihm ein Begräbnis zu geben: »Erde und Himmel mir Sarg und Gruft, Sonne und Mond mir die zwei runden Heilsbilder, die Sterne mein Geschmeide, die unendlichen Dinge mein Trauergeleit — ist nicht alles beisammen? Was könntet ihr noch dazufügen?« Es ist nicht verwunderlich, daß die Welt der Bedingten sich wider ihn erhob. Seine Zeit, die unter der Herrschaft der konfuzianischen Weisheit von der sittlichen Einrichtung des Lebens nach Pflicht und Zweck stand, nannte Tschuang-Tse einen Nutzlosen. In Gleichnissen wie das vom nutzlosen Baum hat er der Zeit seine Antwort gegeben. Die Menschen kennen den Nutzen des Nutzlosen nicht. Den sie den Zwecklosen nennen, ist Taos Zweck. Er trat der öffentlichen Meinung, die das Gesetz seiner Zeit war, entgegen, nicht in Hinsicht auf irgendeinen Inhalt, sondern grundsätzlich. Wer seinem Fürsten oder seinen Eltern schmeichelt, sagte er, wer ihnen blind zustimmt und sie grundlos preist, wird von der Menge unkindlich und treulos genannt; nicht aber, wer der Menge selbst schmeichelt, ihr blind zustimmt, sie grundlos preist, wer seine Haltung und seinen Ausdruck darauf richtet, ihre Gunst zu gewinnen. Er aber kannte die Leerheit der Menge und sprach sie aus; er wußte, daß nur der sie gewinnt, der sich ihr auferlegt, und sagte es: »Ein Mann stiehlt einen Beutel und wird bestraft. Ein andrer stiehlt einen Staat und wird ein Fürst.« Und auch das wußte er, daß die Lehre vom Tao sich der Menge nicht auferlegen kann. Denn die Lehre bringt ja nichts an die Menschen heran, sondern sie sagt einem jeden, daß er die Einheit habe, wenn er sie in sich entdeckt und belebt. Es ist aber mit den Menschen so: »Alle streben zu ergreifen, was sie noch nicht wissen, keiner strebt zu ergreifen, was er weiß.« Das Große ist der Menge unzugänglich, weil es das Einfache ist. Große Musik, sagt Tschuang-Tse, empfängt die Menge nicht, über Gassenhauer jubelt sie; so werden vollkommene Worte nicht gehört, dieweil gemeine 'Worte die Herrschaft haben; zwei tönerne Schellen töten den Glockenklang. »So ist die Welt verirrt; ich weiß den rechten Pfad; aber wie kann ich sie leiten?«
Und so erschöpft sich das Apostolat im Gleichnis, das nicht eifert, sondern in sich verharrt, sichtbar und doch verborgen. Die Welt, sagt Tschuang-Tse, steht wider die Bahn, und die Bahn steht wider die Welt; die Bahn kann die Welt nicht anerkennen, und die Welt kann die Bahn nicht anerkennen; »darum ist die Tugend der Weisen verborgen, mögen sie auch nicht in den Bergen und in den Wäldern hausen; verborgen, auch wenn sie nichts verbergen«. So fand das Apostolat Tschuang-Tses seine Mündung darin, worin die Meisterschaft Lao-Tses ihren Lauf gehabt hatte: in der Verborgenheit.
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Das Wort »Tao« bedeutet den Weg, die Bahn; da es aber auch den Sinn von »Rede« hat, ist es zuweilen mit »Logos« wiedergegeben worden. Es ist bei Lao-Tse und seinen Jüngern, wo immer es metaphorisch entwickelt wird, an die erste dieser Bedeutungen geknüpft. Doch ist seine sprachliche Atmosphäre der des heraklitischen Logos in der Tat verwandt, schon darin, daß beide ein dynamisches Prinzip des Menschenlebens ins Transzendente versetzen, aber im Grunde nichts anderes meinen als das Menschenleben selber, das aller Transzendenz Träger ist. Von Tao will ich das hier darlegen (Die Zitate ohne besondere Bezeichnung sind Tschuang-Tse, die mit (L) bezeichneten Lato-Tse entnommen).
Man hat Tao im Abendlande zumeist als einen Versuch der Welterklärung aufgefaßt; bemerkenswerterweise fiel die Welterklärung, die man darin erblickte, stets mit den Neigungen der jeweiligen Zeitphilosophie zusammen; so galt Tao erst als die Natur, sodann als die Vernunft, und neuerdings soll es gar die Energie sein. Diesen Deutungen gegenüber muß darauf hingewiesen werden, daß Tao überhaupt keine Welterklärung meint, sondern dies, daß der ganze Sinn des Seins in der Einheit des wahrhaften Lebens ruht, nur in ihr erfahren wird, daß er eben diese Einheit, als das Absolute gefaßt, ist. Will man von der Einheit des wahrhaften Lebens absehen und das betrachten, was ihr »zugrunde liegt«, so bleibt nichts übrig als das Unerkennbare, von dem nichts weiter auszusagen ist, als daß es das Unerkennbare ist. Die Einheit ist der einzige Weg, es zu verwirklichen und in solcher Wirklichkeit zu erleben. Das Unerkennbare ist natürlicherweise weder die Natur noch die Vernunft noch die Energie, sondern eben das Unerkennbare, dem kein Bild zureicht, weil »in ihm die Bilder sind«. Das Erlebte aber ist wieder weder die Natur noch die Vernunft noch die Energie, sondern die Einheit der Bahn, die Einheit des wahrhaften Menschenwegs, die der Geeinte in der Welt und in jedem Ding wiederfindet: die Bahn als die Einheit der Welt, als die Einheit jedes Dinges.
Es darf aber die Unerkennbarkeit des Tao nicht so auf gefaßt werden, wie man von der Unerkennbarkeit irgendeines Prinzips religiöser oder philosophischer Welterklärung redet, um dann doch darüber auszusagen. Auch das, was der Name »Tao« aussagt, wird nicht von dem Unerkennbaren ausgesagt; »der Name, der genannt werden kann, ist nicht der ewige Name« (L). Will man Tao nicht als das Notwendige betrachten, dessen Wirklichkeit im geeinten Leben erfahren wird, sondern als ein an sich Seiendes, so findet man nichts zum Betrachten: »Tao kann kein Dasein haben.« Es kann nicht erforscht, nicht dargelegt werden. Nicht bloß kann keine Wahrheit darüber ausgesagt werden, sondern es kann überhaupt nicht Gegenstand einer Aussage sein. Was darüber ausgesagt wird, ist weder wahr noch falsch. »Wie kann Tao so verdunkelt sein, daß etwas >Wahres oder etwas >Falsches daran erscheint?... Tao ist verdunkelt, weil wir es nicht fassen können.« Wenn es also scheint, Tao sei in irgendeiner Zeit mehr da als in irgendeiner andern, so ist dies keine Wirklichkeit, sondern nur wie das Sinken und Steigen der Töne in der Musik, »es gehört zum Spiel«. Wir können es in keinem Sein auffinden. Wenn wir es in Himmel und Erde, im Raum und in der Zeit suchen, so ist es nicht da, sondern Himmel und Erde, Raum und Zeit sind in ihm allein begründet. Und dennoch »kann es durch das Suchen gefunden werden« (L): im geeinten Leben. Da wird es nicht erkannt und gewußt, sondern besessen, gelebt und getan. »Nur wer mit Schweigen es erlangt und mit dem Wesen es vollendet, der hat es«, heißt es in den Büchern des Lieh-Tse. Und er hat es nicht als sein eigen, sondern als den Sinn der Welt. Aus seiner Einheit schaut er die Einheit in der Welt: die Einheit des männlichen und des weiblichen Elements, die nicht für sich, sondern nur aneinander bestehen, die Einheit der Gegensätze, die nicht für sich, sondern nur durcheinander bestehen, die Einheit der Dinge, die nicht für sich, sondern nur miteinander bestehen. Diese Einheit ist das Tao in der Welt. Wenn in einem von Tschuang-Tse erzählten Gespräche Lao-Tse zu Khung-Tse sagt: »Daß der Himmel hoch ist, daß die Erde breit ist, daß Sonne und Mond kreisen, daß die Dinge gedeihen, das ist ihr Tao«, so wird dieser Ausspruch erst durch einen alten Vers, den Lao-Tse in seinem Buche anführt, ganz verständlich. Er lautet:
Himmel kriegte Einheit, damit Glast, Erde Einheit, damit Ruh und Rast, Geister Einheit, damit den Verstand, Bäche Einheit, damit vollen Rand, Alle Wesen Einheit, damit Leben, Fürst und König Einheit, um der Welt das rechte Maß zu geben.
So macht die Einheit jedes Dinges in sich selbst die Art und das Wesen dieses Dinges aus, das ist das Tao dieses Dinges, dieses Dinges Bahn und Ganzheit. »Kein Ding kann Tao erzeugen, und doch hat jedes Ding Tao in sich und erzeugt es ewig von neuem.« Das bedeutet: jedes Ding offenbart Tao durch den Weg seines Daseins, durch sein Leben; denn Tao ist die Einheit in der Wandlung, die Einheit, die sich, wie an der Vielheit der Dinge, so an der Vielheit der aufeinanderfolgenden Momente im Leben jedes Dinges bewährt. Darum ist nicht der Mensch, dessen Weg ohne Wandlungen verläuft, die vollkommene Offenbarung Taos, sondern der Mensch, der mit der stärksten Wandlung die reinste Einheit vereint. Es gibt zwei Arten von Leben. Das eine ist das bloße Hinleben, die Abnutzung bis zum Verlöschen; das andere ist die ewige Wandlung und deren Einheit im Geist. Wer in seinem Leben sich nicht verzehren läßt, sondern sich unablässig erneut und gerade dadurch, in der Wandlung und durch sie, sein Selbst behauptet - das ja nicht ein starres Sein, sondern eben Weg, Tao ist —, der gewinnt die ewige Wandlung und Selbstbehauptung. Denn, hier wie immer in der Tao-Lehre: Bewußtsein wirkt Sein, Geist wirkt Wirklichkeit. Und wie im Zusammenhang der Lebensmomente eines Dinges, so bewährt sich Tao im Zusammenhang der Lebensmomente der Welt, im Kommen und Gehen aller Dinge, in der Einheit der ewigen Allwandlung. So heißt es in den Büchern des Lieh-Tse: »Was keinen Urquell hat und beständig zeugt, ist Tao. Aus Leben zu Leben deshalb, obgleich endend, nicht verderbend, das ist Ewigkeit... Was einen Urquell hat und beständig stirbt, ist ebenfalls Tao. Aus Tod zu Tod deshalb, obgleich nie endend, doch sich selbst verderbend, auch das ist Ewigkeit.« Tod ist Losbindung, ist Übergang zu neuer Gestalt, ist ein Augenblick des Schlafs und der Einkehr zwischen zwei Weltenleben. Alles ist Werden und Wandlung in dem »großen Haus« der Ewigkeit. Wie in dem Dasein des Dinges Scheidung und Sammlung, Wandlung und Einheit aufeinanderfolgen, so folgen im Dasein der Welt Leben und Tod aufeinander, zusammen erst Tao, als die Einheit in der Wandlung, bewährend. Dieses ewige Tao, das die Verneinung alles scheinhaften Seins ist, wird auch das Nichtsein genannt. Geburt ist nicht Anfang, Tod ist nicht Ende, Dasein in Raum und Zeit ist ohne Schranke und Stillstand; Geburt und Tod sind nur Eingang und Ausgang durch »das unsichtbare Tor des Himmels, welches Nichtsein heißt. Dieses ist der Wohnsitz des Vollendeten«.
Auch hier wird der Vollendete, der Geeinte, als der bezeichnet, der Tao unmittelbar erlebt und erfährt. Er schaut die Einheit in der Welt. Das ist aber nicht so zu verstehen, als wäre die Welt ein geschlossenes Ding außer ihm, dessen Einheit er durchdringe. Vielmehr ist die Einheit der Welt nur eine Spiegelung seiner Einheit; denn die Welt ist nichts Fremdes, sondern eins mit dem Geeinten. »Himmel und Erde und ich kamen zusammen ins Dasein, und ich und alle Dinge sind eins.« Da aber die Einheit der Welt nur für den Vollendeten besteht, so ist es in Wahrheit seine Einheit, die Einheit in die Welt setzt. Das geht auch aus dem Wesen Taos hervor, wie es in den Dingen erscheint. Tao ist die Bahn der Dinge, ihre Art, ihre eigentümliche Ordnung, ihre Einheit; aber als solche existiert es in den Dingen nur potentiell; wirkend wird es erst in ihrer Berührung mit andern: »Wären Metall und Sein ohne Tao, sie würden keinen Schall geben. Sie haben die Gewalt des Schalls, aber er kommt aus ihnen nicht, wenn sie nicht geschlagen werden. So ist es mit allen Dingen.« Dabei ist das Bewußtsein immer nicht auf der Seite des Empfangenden, sondern auf der Seite des Gebenden; »Tao wird übermittelt, aber nicht empfangen«. Und wie das Tao der Dinge erst durch ihre Berührung mit andern Dingen lebendig und offenbar wird, so wird das Tao der Welt erst durch ihre unbewußte Berührung mit dem bewußten Sein des Geeinten lebendig und offenbar. Dies wird von Tschuang-Tse so ausgedrückt, daß der Vollendete die beiden Urelemente der Natur, das positive und das negative, Yang und Yin, die die Ureinheit des Seins zerscheiden, versöhnt und in Einklang bringt. Und in einem späten taoistischen Traktat, der in diesem Punkte auf einer - allzu beschränkt gefaßten — Überlieferung zu fußen scheint, dem »Buch von der Reinheit und der Ruhe«, heißt es: »Wenn der Mensch in der Reinheit und der Ruhe verharrt, kehren Himmel und Erde zurück«, das ist: zur Einheit, zum ungeschiedenen Dasein, zu Tao. Auch in dem späten entarteten Schrifttum wird also der Geeinte noch als der Gebende aufgefaßt. Wir dürfen sagen: der Geeinte ist für die Tao-Lehre der Schaffende; denn alles Schaffen bedeutet, von dieser Lehre aus angesehen, nichts andres als: das Tao der Welt, das Tao der Dinge hervorrufen, die ruhende Einheit lebendig und offenbar machen. Es sei zusammenzufassen versucht:
Tao in sich ist das Unerkennbare, das Unwißbare. »Das wahre Tao erklärt sich nicht.« Es ist nicht vorzustellen; es ist nicht zu denken, es hat kein Bild, kein Wort, kein Maß. »Taos Richtmaß ist sein Selbst« (L).
Tao erscheint im Werden der Welt als die ursprüngliche Ungeschiedenheit, als das Urdasein, dem alle Elemente entsprangen, als »aller Wesen Mutter« (L), als der »Talgeist«, der alles trägt. »Der Talgeist ist unsterblich; er heißt das tiefe Weibliche. Des tiefen Weiblichen Pforte, die heißt Himmels und der Erde Wurzel« (L). Tao erscheint im Sein der Welt als die konstante Ungeschiedenheit: als der einheitliche Wandel der Welt, als ihre Ordnung. »Es hat seine Bewegung und seine Wahrheit, aber es hat weder Handlung noch Gestalt.« Es ist »ewig ohne Tun und doch ohne Nichttun« (L). Es »beharrt und wandelt sich nicht« (L). Tao erscheint in den Dingen als die persönliche Ungeschiedenheit: als die eigentümliche Art und Kraft der Dinge. Es gibt kein Ding, in dem nicht das ganze Tao wäre, als dieses Dinges Selbst. Aber auch hier ist Tao ewig ohne Tun und doch ohne Nichttun. Das Selbst der Dinge hat sein Leben in der Weise, in der die Dinge den Dingen antworten.
Tao erscheint im Menschen als die zielhafte Ungeschiedenheit: als das Einigende, das alle Abirrung vom Lebensgrunde überwindet, als das Ganzmachende, das alle Zersonderung und Brüchigkeit heilt, als das Entsühnende, das von aller Entzweiung erlöst. »Wer in der Sünde ist, Tao vermag ihn zu entsühnen« (L). Als die zielhafte Ungeschiedenheit hat Tao seine eigene Erfüllung zum Ziel. Es will sich verwirklichen. Im Menschen kann Tao so reine Einheit werden, wie es in der Welt, in den Dingen nicht werden kann. Der Mensch, in dem Tao reine Einheit wird, ist der Vollendete. In ihm erscheint Tao nicht mehr, sondern ist. Der Vollendete ist in sich beschlossen, allgesichert, aus Tao geeinigt, die Welt einigend, ein Schaffender, »Gottes Genosse«: der Genosse der allschöpferischen Ewigkeit, Der Vollendete hat Ewigkeit. Nur der Vollendete hat Ewigkeit. Der Geist wandert durch die Dinge, bis er im Vollendeten zur Ewigkeit aufblüht. Dies bedeutet das Wort Lao-Tses: »Ersteige die Höhe der Entäußerung, umfange den Urgrund der Ruhe. Die unzählbaren Wesen erheben sich alle. Daran erkenne ich ihre Rückkehr. Wenn die Wesen sich entfaltet haben, in der Entfaltung kehrt jedes zu seiner Wurzel zurück. Zur Wurzel zurückgekehrt sein, heißt ruhen. Ruhen heißt, die Bestimmung erfüllt haben. Die Bestimmung erfüllt haben, heißt ewig sein.«
Tao verwirklicht sich im wahrhaften Leben des Vollendeten. In seiner reinen Einheit wird es aus Erscheinung zu unmittelbarer Wirklichkeit. Das unerkennbare und das geeinte Menschenleben, das Erste und das Letzte berühren sich. Im Vollendeten kehrt Tao von seiner Weltwanderung durch die Erscheinung zu sich selber zurück. Es wird Erfüllung.
7
Was aber ist das geeinte Menschenleben in seinem Verhältnis zu den Dingen? Wie lebt der Vollendete in der Welt? Welche Gestalt nimmt bei ihm das Erkennen an, das Kommen der Dinge zum Menschen? Welche das Tun, das Kommen des Menschen zu den Dingen?
Die Tao-Lehre antwortet darauf mit einer großen Verneinung alles dessen, was von den Menschen Erkennen und Tun genannt wird. Was von den Menschen Erkennen genannt wird, beruht auf der Zerschiedenheit der Sinne und der Geisteskräfte. Was von den Menschen Tun genannt wird, beruht auf der Zerschiedenheit der Absichten und der Handlungen. Jeder Sinn nimmt anderes auf, jede Geisteskraft bearbeitet es anders, alle taumeln sie durcheinander in der Unendlichkeit: das nennen die Menschen Erkennen. Jede Absicht zerrt am Gefüge, jede Handlung greift in die Ordnung ein, alle wirren sie durcheinander in die Unendlichkeit: das nennen die Menschen Tun.
Was von den Menschen Erkennen genannt wird, ist kein Erkennen. Um dies zu erweisen, hat Tschuang-Tse schier alle die Gründe vereinigt, die je der Menschengeist ersann, um sich selber in Frage zu stellen.
Es gibt keine Wahrnehmung, weil die Dinge sich unablässig ändern.
Es gibt keine Erkenntnis im Raum, weil uns nicht absolute, sondern nur relative Ausdehnung zugänglich ist. Alle Größe besteht nur im Verhältnis; »unterm Himmel ist nichts, was größer wäre als die Spitze eines Grashalms«. Wir können uns unserem Maße nicht entschwingen; die Grille versteht den Flug des Riesenvogels nicht.
Es gibt keine Erkenntnis in der Zeit, weil für uns auch die Dauer nur als Verhältniswert besteht. »Kein Wesen erreicht ein höheres Alter als ein Kind, das in der Wiege starb.« Wir können uns unserm Maße nicht entschwingen; ein Morgenpilz kennt den Wechsel von Tag und Nacht nicht, eine Schmetterlingspuppe kennt den Wechsel von Frühling und Herbst nicht.
Es gibt keine Gewißheit des Lebens; denn wir haben kein Kriterium, an dem wir entscheiden könnten, welches das eigentliche und bestimmende Leben ist, das Wachen oder der Traum. Jeder Zustand hält sich für den eigentlichen.
Es gibt keine Gewißheit der Werte; denn wir haben kein Richtmaß, an dem wir entscheiden könnten, was schön und was häßlich, was gut und was böse ist. Jedes Wesen nennt sich gut und sein Gegenteil böse.
Es gibt keine Wahrheit der Begriffe; denn alle Sprache ist unzulänglich.
All dies bedeutet für Tschuang-Tse nur eins: daß das, was von den Menschen Erkennen genannt wird, kein Erkennen ist. In der Geschiedenheit gibt es kein Erkennen. Nur der Ungeschiedene erkennt; denn nur in wem keine Scheidung ist, der ist von der Welt nicht geschieden, und nur wer von der Welt nicht geschieden ist, kann sie erkennen. Nicht im Gegenüberstehen, in der Dialektik von Subjekt und Objekt: nur in der Einheit mit dem All gibt es Erkenntnis. Die Einheit ist die Erkenntnis.
Diese Erkenntnis wird durch nichts in Frage gestellt; denn sie umfaßt das Ganze: sie überwindet die Relation in der Unbedingtheit des Allumfangens. Sie nimmt jedes Gegensatzpaar als eine Polarität an, ohne die Gegensätze festlegen zu wollen, und sie schließt alle Polaritäten in ihrer Einheit ein; sie »versöhnt das Ja mit dem Nein im Lichte«.
Diese Erkenntnis ist ohne Sucht und ohne Suchen. Sie ist bei sich selbst. »Nicht ausgehend zur Tür, kennt man die Welt; nicht ausblickend durchs Fenster, sieht man des Himmels Weg« (L). Sie ist ohne Wissenswahn. Sie hat die Dinge, sie weiß sie nicht. Sie vollzieht sich nicht durch Sinne und Geisteskräfte, sondern durch die Ganzheit des Wesens. Sie läßt die Sinne gewähren, aber nur wie spielende Kinder; denn alles, was sie ihr zutragen, ist nur eine bunte, spielende, Ungewisse Spiegelung ihrer eigenen Wahrheit. Sie läßt die Geisteskräfte gewähren, aber nur wie Tänzer, die ihre Musik zum Bilde machen, ungetreu und unstet und gestaltenreich nach Tänzerart. Das »Orgelspiel des Himmels«, das Spielen der Einheit auf der Vielheit unserer Natur (»wie der Wind auf den Öffnungen der Bäume spielt«), ist hier zum Orgelspiel der Seele geworden.
Diese Erkenntnis ist nicht Wissen, sondern Sein. Weil sie die Dinge in ihrer Einheit besitzt, steht sie ihnen niemals gegenüber; und wenn sie sie betrachtet, betrachtet sie sie von ihnen aus, jedes Ding von ihm aus; aber nicht aus seiner Erscheinung, sondern aus dem Wesen dieses Dinges, aus der Einheit dieses Dinges, die sie in ihrer Einheit besitzt. Diese Erkenntnis ist jedes Ding, das sie betrachtet; und so hebt sie jedes Ding, das sie betrachtet, aus der Erscheinung zum Sein.
Diese Erkenntnis umfängt alle Dinge in ihrem Sein, das ist in ihrer Liebe. Sie ist die allumfangende Liebe, die alle Gegensätze aufhebt.
Diese Erkenntnis ist die Tat - Die Tat ist das ewige Richtmaß, das ewige Kriterium, das Unbedingte, das Sprachlose, das Unwandelbare. Die Erkenntnis des Vollendeten ist nicht in seinem Denken, sondern in seinem Tun.
Was von den Menschen Tun genannt wird, ist kein Tun. Es ist nicht ein Wirken des ganzen Wesens, sondern ein Hineintappen einzelner Absichten in Taos Gewebe, das Eingreifen einzelner Handlungen in Art und Ordnung der Dinge. Es ist in den Zwecken verstrickt.
Insofern sie es billigen, wird es von den Menschen Tugend genannt. Was von den Menschen Tugend genannt wird, ist keine Tugend. Es erschöpft sich in »Menschenliebe« und »Gerechtigkeit«. Was von den Menschen Menschenliebe und Gerechtigkeit genannt wird, hat nichts gemein mit der Liebe des Vollendeten. Es ist verkehrt, weil es als Sollen auftritt, als Gegenstand der Forderung. Liebe aber kann nicht geboten werden. Geforderte Liebe wirkt nur Übel und Kummer; sie steht im Widerstreit mit der natürlichen Güte des Menschenherzens, sie trübt seine Reinheit und verstört seine Unmittelbarkeit. Darum verbringen, die so predigen, ihre Tage damit, über die Bosheit der Welt zu klagen. Sie verletzen die Ganzheit und Wahrhaftigkeit der Dinge und wecken den Zweifel und die Entzweiung. Absichtliche Menschenliebe und absichtliche Gerechtigkeit sind nicht in der Natur des Menschen begründet; sie sind überflüssig und lästig wie überzählige Finger oder andere Auswüchse. Darum spricht Lao-Tse zu Khung-Tse: »Wie Stechfliegen einen die ganze Nacht wach halten, so plagt mich dieses Gerede von Menschenliebe und Gerechtigkeit. Strebe danach, die Welt zu ihrer ursprünglichen Einfalt zurückzubringen.«
Aber noch in einem andern Sinn haben »Menschenliebe und Gerechtigkeit« nichts gemein mit der Liebe des Vollendeten. Sie beruhen darauf, daß der Mensch den andern Menschen gegenüberstehe und sie nun »liebevoll« und »gerecht« behandle. Die Liebe des Vollendeten aber, der jeder Mensch nachstreben kann, beruht auf der Einheit mit allen Dingen. Darum spricht Lao-Tse zu Khung-Tse: »Für die vollkommenen Männer der Urzeit war Menschenliebe nur ein Durchgangsplatz und Gerechtigkeit nur eine Nachtherberge auf dem "Wege ins Reich der Ungeschiedenheit, wo sie sich von den Gefilden des Gleichmuts nährten und in den Gärten der Pflichtlosigkeit wohnten.«
Wie das wahre Erkennen von Lao-Tse, der es von der Menschensprache aus ansieht, »Nichterkennen« genannt wird (»Wer licht in Tao, ist wie voll Nacht«), so wird das wahre Tun des Vollendeten, von ihm »Nichttun« genannt. »Der Vollendete tut das Nichttun« (L). »Die Ruhe des Weisen ist nicht, was die Welt Ruhe nennt: sie ist das Werk seiner inneren Tat.« Dieses Tun, das »Nichttun«, ist ein Wirken des ganzen Wesens. In das Leben der Dinge eingreifen heißt sie und sich schädigen. Ruhen aber heißt wirken, die eigne Seele reinigen heißt die Welt reinigen, sich in sich sammeln heißt hilfreich sein, sich Tao ergeben heißt die Schöpfung erneuern. Der sich auferlegt, hat die kleine, offenbare Macht; der sich nicht auferlegt, hat die große, heimliche Macht. Der nicht »tut«, wirkt. Der in vollkommener Eintracht ist, den umgibt die empfangende Liebe der Welt. »Er ist unbewegt wie ein Leichnam, dieweil seine Drachengewalt sich ringsum offenbart, in tiefem Schweigen, dieweil seine Donnerstimme erschallt, und die Mächte des Himmels antworten jeder Regung seines Willens, und unter dem nachgiebigen Einfluß des Nichttuns reifen und gedeihen alle Dinge.«
Dieses Tun, das »Nichttun«, ist ein Wirken aus gesammelter Einheit. In immer neuem Gleichnis sagt es Tschuang-Tse, daß jeder das Rechte tut, der sich in seinem Tun zur Einheit sammelt. Wer auf eines gesammelt ist, dessen Wille wird reines Können, reines Wirken; denn wenn im Wollenden keine Scheidung ist, ist zwischen ihm und dem Gewollten — dem Sein — keine Scheidung mehr; das Gewollte wird Sein. Der Adel der Wesen liegt in ihrer Fähigkeit, sich auf eines zu sammeln. Um dieser Einheit willen heißt es bei Lao-Tse: »Wer in sich hat der Tugend Fülle, gleicht dem neugeborenen Kinde.« Der Geeinte ist wie ein Kind, das den ganzen Tag schreit und nicht heiser wird, aus Einklang der Kräfte, den ganzen Tag die Faust geschlossen hält, aus gesammelter Tugend, den ganzen Tag ein Ding anstarrt, aus unzerschiedener Aufmerksamkeit, das sich bewegt, ruht, sich anpaßt, ohne es zu wissen, und jenseits aller Trübung in einem himmlischen Lichte lebt.
Dieses Tun, das »Nichttun«, steht im Einklang mit dem Wesen und der Bestimmung aller Dinge, das ist mit Tao. »Der Vollendete hat, wie Himmel und Erde, keine Menschenliebe.« Er steht den Wesen nicht gegenüber, sondern umfaßt sie. Darum ist seine Liebe ganz frei und unbeschränkt, hängt nicht vom Gebaren der Menschen ab und kennt keine Wahl; sie ist die unbedingte Liebe. »Gute - ich behandle sie gut, Nichtgute - auch sie behandle ich gut: die Tugend ist gut. Getreue - ich behandle sie getreu, Nichtgetreue — auch sie behandle ich getreu: die Tugend ist treu« (L). Und weil er keine »Menschenliebe« hat, greift der Vollendete nicht in das Leben der Wesen ein, er erlegt ihnen nichts auf, sondern er »verhilft allen Wesen zu ihrer Freiheit« (L): er führt durch seine Einheit auch sie zur Einheit, er macht ihr Wesen und ihre Bestimmung frei, er erlöst Tao in ihnen.
Wie die natürliche Tugend, die Tugend jedes Dinges, in seinem »Nichtsein« besteht: darin, daß es in seinen Grenzen, in seiner Urbeschaffenheit ruht, so besteht die höchste Tugend, die Tugend des Vollendeten in seinem »Nichttun«: in seinem Wirken aus ungeschiedener, gegensatzloser, umfriedeter Einheit. »Seine Ausgänge schließt er, versperrt seine Pforten, er bricht seine Schärfe, streut aus seine Fülle, macht milde sein Glänzen, wird eins seinem Staube. Das heißt tiefes Einswerden« (L).
8
Einheit allein ist wahre Macht. Darum ist der Geeinte der wahre Herrscher.
Das Verhältnis des Herrschers zum Reich ist Taos höchste Kundgebung im Zusammenleben der Wesen. Das Reich, die Gemeinschaft der Wesen, ist nicht etwas Künstliches und "Willkürliches, sondern etwas Eingeborenes und Selbstbestimmtes. »Das Reich ist ein geistiges Gefäß und kann nicht gemacht werden. Wer es macht, zerstört es« (L). Darum ist das, was von den Menschen Regieren genannt wird, kein Regieren, sondern ein Zerstören. Wer in das natürliche Leben des Reiches eingreift, wer es von außen lenken, meistern und bestimmen will, der vernichtet es, der verliert es. Wer das natürliche Leben des Reiches behütet und entfaltet, wer ihm nicht Befehl und Zwang auferlegt, sondern sich darein versenkt, seiner heimlichen Botschaft lauscht und sie ans Licht und ans Werk bringt, der beherrscht es in Wahrheit. Er tut das Nichttun: er greift nicht ein, sondern behütet und entfaltet, was werden will. In des Reiches Not und Trieb offenbart sich ihm Taos Wille. Er schließt seinen Willen daran, er wird Taos Werkzeug, und alle Dinge ändern sich von selbst. Er kennt keine Gewalt, und doch folgen alle Wesen dem Winke seiner Hand. Er übt weder Lohn noch Strafe, und doch geschieht, was er geschehen machen will. »Ich bin ohne Tun«, spricht der Vollendete, »und das Volk ändert sich von selber; ich liebe die Ruhe, und das Volk wird von selber rechtschaffen; ich bin ohne Geschäftigkeit, und das Volk wird von selber reich; ich bin ohne Begierden, und das Volk wird von selber einfach« (L).
Regieren heißt sich der natürlichen Ordnung der Erscheinungen einfügen. Das kann aber nur, wer die Einheit gefunden hat und aus ihr die Einheit jedes Dinges in sich selbst und die Einheit der Dinge miteinander schaut. Wer die Unterschiede loswird und sich dem Unendlichen verbindet, wer die Dinge wie sich dem Ur-dasein wiedergibt, beides, sich und die Welt, zusammen entläßt, zur Reinheit bringt, aus der Knechtschaft der Gewalt und des Getriebes erlöst, der regiert die Welt.
Das Reich ist entartet; es ist der Gewalttat der Obrigkeit verfallen. Es muß aus ihr befreit werden. Dies ist das Ziel des wahren Herrschers.
Was ist die Gewalttat der Obrigkeit? Der Zwang der falschen Macht. »Je mehr Verbote und Beschränkungen das Reich hat, desto mehr verarmt das Volk; je mehr Waffen das Volk hat, desto mehr wird das Land beunruhigt; je mehr Künstlichkeit und List das Volk hat, desto ungeheuerlichere Dinge kommen auf; je mehr Gesetze und Verordnungen kundgemacht werden, desto mehr Räuber und Diebe gibt es« (L). Die Obrigkeit ist der Parasit, der dem Volk die Lebenskraft entzieht. »Das Volk hungert, weil seine Obrigkeit zuviel Abgaben verzehrt. Deshalb hungert es. Das Volk ist schwer zu regieren, weil seine Obrigkeit allzu geschäftig ist. Deshalb ist es schwer zu regieren. Das Volk achtet den Tod gering, weil es umsonst nach Lebensfülle verlangt. Deshalb achtet es den Tod gering« (L). Der wahre Herrscher befreit das Volk von der Gewalttat der Obrigkeit, indem er statt der Macht das »Nichttun« walten läßt. Er übt seinen umgestaltenden Einfluß auf alle Wesen, und doch weiß keines davon; denn er beeinflußt sie in Übereinstimmung mit ihrer Urbeschaffenheit. Er macht, daß Menschen und Dinge sich aus sich selber freuen. Er nimmt all ihr Leid auf sich. »Tragen des Landes Not und Pein, das heißt des Reiches König sein« (L).
In dem entarteten Reich ist es so, daß es keinem gewährt ist, seine Angelegenheiten nach eigner Einsicht zu führen, sondern jeder steht unter der Botmäßigkeit der Vielheit. Der wahre Herrscher befreit den Einzelnen von dieser Botmäßigkeit: er entmengt die Menge und läßt jeden frei das Seine verwalten und die Gemeinschaft das Gemeinsame. All dies aber tut er in der Weise des Nichttuns, und das Volk merkt nicht, daß es einen Herrscher hat; es spricht: »Wir sind von selbst so geworden.« Der wahre Herrscher steht als der Vollendete jenseits von Menschenliebe und Gerechtigkeit. Wohl ist der weise Fürst zu loben, der jedem das Seine gibt und gerecht ist; noch höher ist der tugendreiche zu schätzen, der in Gemeinschaft mit allen steht und Liebe übt; aber das Reich, das geistige Gefäß, auf Erden zu erfüllen vermag nur der geistige Fürst, der die Vollendung schafft: Einheit mit Himmel und Erde, Freiheit von allen Bindungen, die Tao widerstreiten, Erlösung der Dinge zu ihrer Urbeschaffenheit, zu ihrer Tugend.
Der wahre Herrscher ist Taos Vollstrecker auf Erden. Darum heißt es: »Tao ist groß, der Himmel ist groß, die Erde ist groß, auch der König ist groß« (L).
9
Ich habe die Tao-Lehre nicht in einer »Entwicklung«, sondern in ihrer Einheit betrachtet. Die Lehre entwickelt sich nicht, sie kann sich nicht entwickeln, nachdem sie in dem zentralen Menschenleben ihre Erfüllung gefunden hat; sondern sie wird Regel, wie die Lehre Buddhas: wenn der apostolische Mensch, der sie (niemals unmittelbar) aus den Händen des Erfüllenden übernimmt, ein Organisator wie Asoka ist; oder sie wird Dialektik, wie die Lehre Jesu: wenn dieser Mensch ein Gewalttäter wie Paulus ist; oder sie wird Poesie, wie die Tao-Lehre: wenn er ein Dichter wie Tschuang-Tse ist. Tschuang-Tse war ein Dichter. Er hat die Lehre, wie sie uns in den Worten Lao-Tses gegeben ist, nicht »weitergebildet«, aber er hat sie zur Dichtung ausgestaltet. Und zur Philosophie; denn er war ein Dichter der Idee, wie Platon. Tschuang-Tse hat auch sonst mancherlei Verwandtschaft mit griechischen Philosophen. Man hat ihn mit Heraklit verglichen; und in der Tat sind heraklitische Worte, wie die vom unerkennbaren, aber in allem wirkenden Logos, von der Einheit, die namenlos und benannt zugleich ist, von ihrer Kundgebung als der ewigen Ordnung in der Welt, von der ewigen Wandlung aus Allheit zur Einheit und aus Einheit zur Allheit, von der Harmonie der Gegensätze, von dem Verhältnis zwischen Wachen und Traum im Dasein des Einzelnen, von dem zwischen Leben und Sterben im Dasein der Welt, nichts anderem mit gleichem Recht zu gesellen wie der Tao-Lehre. Aber darüber hinaus darf Tschuang-Tse vielleicht mit der Gesamtgestalt der griechischen Philosophie verglichen werden, die das vollkommen tat, was bei ihm nur angelegt ist: die die Lehre aus der Sphäre des wahrhaften Lebens in die Sphäre der Welterklärung, der Wißbarkeit und des ideologischen Aufbaus übertrug und damit freilich etwas ganz Eigenes und ganz in sich Gewaltiges schuf.
Es ist recht verlockend, Tschuang-Tse auch mit abendländischer Dichtung zu vergleichen, wozu sich sogar einzelne Motive in einer fast seltsamen Weise darbieten. Man schreite etwa von äußerlicher bis zu immer innerlicherer Affinität vor: man beginne damit, die Erzählung vom Totenschädel neben Hamlets Kirchhofsrede zu stellen, tue dann »Schweigen« und die Erzählung der Fioretti von der Begegnung des Bruders Aegidius mit Ludwig von Frankreich zusammen, um zuletzt in dem Gespräch vom ewigen Sterben die selige Sehnsucht des »Stirb und werde« im herberen, einsameren, gedankenhafteren Gegenbild wiederzufinden. Aber all dies darf nur Durchgang sein zu einer Aufnahme, in der man Tschuang-Tse nicht mehr einzureihen versucht, sondern ihn in seiner ganzen Wesenhaftigkeit ohne Vergleich und Zuordnung empfängt; ihn, das ist: sein Werk, das Gleichnis.
Philosophy : China : Daoism
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Philosophy : Europe : Germany