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Chronology Entry

Year

1921

Text

Rosenzweig, Franz. Stern der Erlösung [ID D15435].
Hans-Georg Möller : Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung entfaltet einen geschlossenen Grundriss des chinesischen Geistes, der gerade durch seine Kürze und logische Notwendigkeit innerhalb des philosophischen Musters seines Buches von einer derartigen Kräftigkeit ist, dass es nur einem kleinkarierten Sinologen einfallen wird, dem Verfasser mit schulmeisterlicher Besserwisserei eine chinesische historische "Faktizität" entgegenzuhalten.
China spielt nur im ersten Teil des Buches eine Rolle, wo die frühen, noch statischen, philosophischen Versuche als die "Elemente" der geistigen Konstitution der Kulturkreise geschildert werden, deren Hervorbringungen sie sind und als eine "immerwährende Vorwelt" Sinn und Verstehen bedingen…
Die Gestalt Gottes entsteht nicht durch sein Streben nach Entäusserung, sondern sie erwächst aus der Minimierung dieses Strebens, aus dem Wunsch nach Umhüllung : Gott ist hier eine seelenlos umfassende Konstante : "nirgends wird der anschauliche Sinn des Immanenzgedankens so deutlich wie bei diesem chinesischen Vergöttern der Himmelswölbung, ausser der – Nichts ist". Rückbildungen ins Elementare sind die Vorstellungen göttlicher Macht, und die Rückbildung wird radikal, wenn der Daoismus, der bei Rosenzweig den Konfuzianismus immer noch um einen Schritt überholt, schliesslich das Nichts selbst vergöttert…
Ein Mangel an Entschlossenheit zur Grenzüberschreitung kennzeichnet auch die Erkenntniswelt des Konfuzianismus, des "metaphysikfreisten aller national-ethnischen Systeme. Das Geistige, insofern es noch eine Rolle spielt, wird zu Geistern". Der "primitive Phänomenalismus" erreicht in der daoistischen Lehre den Nullpunkt, indem die Abkehr vom Wissen, von Fülle und Vielzahl als ein Versinken inmitten des Geschehens gepriesen wird. In völliger Ruhe und Untätigkeit entsteht eine Leere, die um sich herum das Geschehen lässt. Es entsteht ein "Eintauchen" in die Welt, weil "der Mut zur Weltschau fehlt".
Die Idelisierung der Mutlosigkkeit kann natürlich keinen Helden hervorbringen. Der chinesische Mensch bleibt „untragisch“. Der Konfuzianer gibt sich weder als Held, noch der Lächerlichkeit preis. Wo sich kein Charakter bildet, wird der "Durchschnittsmensch" zum Ideal, derjenige, der alle Übertretungen des rechten Masses, alle Verletzungen der Mittelmässigkeit zu vermeiden vermag. Aber „es mag zur Ehre des Menschengeschlechts gesagt sein, dass wohl nirgends als nur hier in China ein so langweiliger Mensch wie Kongfutse zum klassischen Musterbild des Menschlichen hat werden können.

In Walter Benjamins feinnerviger und ebenso beziehungsreicher wie spielerisch-selbstbewusster Aufnahme der Bildlichkeit der Literatur Kafkas taucht als ein Kontrapunkt, als ein Gegengewicht, von dem her Kafkas Figuren und Figurationen einen Ort erhalten, eine Vorstellung von China auf, wie sie einerseits aus dem Werk des Dichters selbst entnommen ist und wie sie Benjamin andererseits aus der Lektüre des philosophischen Werkes Franz Rosenzweigs, dem Stern der Erlösung bezogen hat.
Kafkas literarische Verwendung einer Vorstellung von China ergänzt Benjamin durch die philosophisch-theologische China-Skizze Rosenkranz, welche in scharfen Worten eine chinesische "Weltanschauung" konstruiert, um ein Gegenbild zur Geisteswelt des Griechen- und Judentums zu gewinnen. Benjamin, der weder Rosenzweig, noch gar China, und eigentlich auch nicht Kafka "interpretieren" will, montiert die beiden Visionen ineinander, und zwar zurecht, denn die Operationen gleichen sich : ein schweres Gegengewicht ist China sowohl für Kafka als auch für Rosenzweig, eine fremde Welt, die nicht wirklich Gegenstand wird, sondern die Balance der eigenen Konstruktion aufrechterhält.
Benjamin entzieht der Skizze Rosenzweigs zwei Details, die er in der Literatur Kafkas wieder aufbaut. Es ist die Geisterfülle der chinesischen Religion – eine Fülle, die aus der völligen Eingliederung der "andern Welt" in die alltäglichen Belange entsteht – die Benjamin in Kafkas Erzählungen wiederfindet… Geister und Tiergeister sind das nicht entrückte Jenseitige, das in körperlicher Anwesenheit die Schwächen der Handlungsmöglichkeiten offenbart. Das Handeln wird Achtsamkeit darauf, nicht gegen schwer lastende, aber eigentlich unbekannte Anforderungen zu verstossen. Der Instinkt ist im Geist, im Tier, Wesen geworden. Der Instinkt, der dem Menschen bleibt, ist die Furcht, die Ehrfurcht wird. Undurchdringliche Konstanten fassen die schmale Welt des einzelnen ein ; Mahnungen und Bedrohungen lauern. Die Strategie, die übrigbleibt, das Dao, ist die Aufgabe und der Rückzug, das Unauffälligbleiben, die Vermeidung der falschen Bewegung, das Abmagern…

Mentioned People (2)

Benjamin, Walter  (Berlin 1892-1940 Port Bou, Selbstmord) : Philosoph, Literaturkritiker, Übersetzer

Rosenzweig, Franz  (Kassel 1886-1929 Frankfurt a.M.) : Historiker, Philosoph

Subjects

Literature : Occident : Germany / Philosophy : Europe : Germany

Documents (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1994 Möller, Hans-Georg. Drei Juden und ein Chinese : Franz Kafka, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin und Konfuzius. In : Minima sinica ; 2 (1994). [Confucius]. Publication / Ben27